»Die Luft ist rein.« Inzwischen hatte Aurelia ihren Kopf durch die Klappe des Hinterausgangs gesteckt und auf die Gasse hinausgespäht. »Schnell! Beeil dich!«
Alyss warf einen letzten Blick auf die falsche Fee, den Indianer und den Riesen. Dann schlüpfte sie nach draußen und eilte, ohne sich umzublicken, auf das Verrätertor zu.
Obwohl Alyss sich noch genau daran erinnern konnte, dass Molls Pfandhaus in den Gassen rechts von der Brücke lag, dauerte es ewig, bis sie den Laden wiedergefunden hatte. Fast wollte sie schon aufgeben, als sie in einer abgelegenen Gasse endlich die drei eisernen Kugeln entdeckte. Auf einem Verkaufstisch im Nachbarhaus wurden Lederhandschuhe angeboten. Sie erinnerte sich, dass Jack ihr von der Tochter eines Handschuhmachers berichtet hatte, die wie sein Bruder vermisst wurde. Ob das der Laden war? Angeblich war das Mädchen am helllichten Tag verschwunden. Wie war das möglich?
Die Ladenglocke läutete, als sie einen Augenblick später durch die Tür ins Pfandhaus trat. Doch abgesehen von ihrem eigenen Spiegelbild, das sie von allen Seiten anstarrte, schien der Laden leer.
»Hallo! Ist da jemand?« Keine Antwort. Am Ende eines Korridors, in dem ebenfalls Spiegel hingen, konnte man durch eine offene Tür einen Hinterhof sehen. Zwischen den Spiegeln im Flur gab es noch eine weitere Tür. Gerade als sie überlegte, ob sie dort anklopfen sollte, trat das ältere Mädchen mit den langen blonden Haaren heraus. Die anderen Kinder waren heute nirgendwo zu sehen. Ob Tommy wieder aufgetaucht war?
»Ja?«, fragte das Mädchen.
»Ist Jack hier?«
»Jack? Der ist schon in aller Frühe losgezogen. Hatte es ganz eilig.«
Was sollte Alyss tun? Sie konnte doch nicht einfach ein wildfremdes Mädchen fragen, ob sie hier für eine Weile Unterschlupf finden könnte.
»Und Moll? Ist die zu Hause?«, erkundigte sie sich stattdessen höflich.
Das Mädchen nickte. »Augenblick.«
Es trat zurück in den Raum, aus dem es gekommen war, und Alyss konnte leises Murmeln hören. Sie musste nicht lange warten, denn gleich darauf trat Moll in den Laden. Sie trug immer noch Männerhosen und ein Wams. Das Äffchen auf ihrer Schulter starrte Alyss argwöhnisch an.
»Ach, da kommst du ja endlich, mein Junge«, säuselte Moll mit lieblicher Stimme. Sie blickte über Alyss’ Rücken, als ob sie einen weiteren Besucher erwartete. »Ist dein netter Freund heute nicht bei dir?«
Alyss blickte sie verdutzt an. Was war mit der kratzbürstigen Frau geschehen? Sie war wie ausgewechselt. Vielleicht hatte sie Sassas Drohung ernst genommen.
»Ich hab dein kleines Tierchen tatsächlich aufgetrieben«, erklärte sie immer noch freundlich, während sie sich an der Nase kratzte. »Allerdings bin ich noch nicht dazugekommen, es abzuholen. Hab einfach zu viel um die Ohren.«
»Wenn Ihr mir sagt, wo ich den Käufer finde, kann ich selber hingehen«, erwiderte Alyss erfreut.
»Na, das wäre nett von dir. Mit der Bezahlung ist sowieso alles so weit geregelt. Maggie«, wandte sie sich an das Mädchen, das immer noch im Gang stand und dem Gespräch zuhörte. »Geh und hol unserem Gast was zu trinken und ’n Stückchen Pastete.«
Das Mädchen nickte gehorsam und verschwand durch die Tür zwischen den Spiegeln.
»Weißt du, wo’s Theaterviertel liegt?«, fragte Moll, sobald Maggie gegangen war.
Vor zwei Jahren, als Alyss mit ihrem Vater nach London gekommen war, um die indianische Prinzessin zu sehen, hatten sie sich in einem der Theater der Stadt ein Stück angesehen. Sie konnte sich noch gut an die Handlung erinnern – es ging um ein Schiff, das während eines Unwetters auf einer fernen Insel strandete, um einen Zauberer und um Geister –, doch wo genau das Theater gewesen war, wusste sie nicht mehr.
Moll erklärte ihr den Weg.
»Die Silberne Nixe kannst du nicht verfehlen«, meinte sie abschließend. »Frag dort einfach nach Nathaniel. Er weiß Bescheid, und wenn du ihm sagst, wer dich geschickt hat, wird er dir den Salamander zurückgeben.« Sie kraulte Orlando am Hals.
Alyss bedankte sich und machte sich, ohne sich länger aufzuhalten, gleich auf den Weg. Vor lauter Aufregung hatte sie vergessen, dass das Mädchen dabei war, ihr etwas zu essen zu bringen. Vor allem aber hatte sie es versäumt, Moll zu fragen, ob sie vielleicht für ein paar Tage bei ihr wohnen durfte. Doch das hatte wohl auch Zeit bis später. Erst musste sie den Salamander holen.
Die Schenke Zur Silbernen Nixe lag tatsächlich nicht weit von den Theatern am südlichen Flussufer, in einer Gasse, die zur Themse führte. Armselige Häuser reihten sich dort dicht aneinander. An der Straßenecke knieten zwei Jungen auf dem Boden und schnippten Murmeln in ein Schlagloch. Der Gestank nach verfaulten Fischen, der vom Fluss hochstieg, schien sie nicht zu stören. Alyss dagegen musste sich die Hand vor die Nase halten. Ein Holzschild, von dem die Farbe abblätterte, kündigte die Schenke schon von Weitem an. Darauf war eine Meerjungfrau abgebildet, doch obwohl sich die Schenke Zur Silbernen Nixe nannte, war ihr Schwanz nicht silbern, sondern grau und die Farbe blätterte bereits ab. Der Bau selbst sah auch nicht gerade einladend aus, die Fenster waren ungeputzt und in der Gosse davor häufte sich der Müll. Das Lokal sah geschlossen aus. Doch Alyss fasste allen Mut zusammen und klopfte mit der Faust mehrmals gegen die Tür. Es dauerte nicht lange, bis sie dahinter schlurfende Schritte hörte.
»Wo brennt’s?« Eine dürre Frau mit fettigen Haaren blickte durch den Spalt. »Wir machen erst heute Abend wieder auf.«
»Moll schickt mich«, erklärte Alyss. »Ich soll mit Master Nathaniel sprechen.«
»Ach so«, erwiderte die Frau. »Das ist natürlich was anderes.« Dann drehte sie sich um und rief laut: »Nathaniel! Besuch für dich.«
»Wer ist’s denn jetzt schon wieder«, kam eine schlecht gelaunte Stimme aus dem Raum. »Kann man nicht mal ’nen Augenblick Ruhe haben.«
»Es ist der Junge von Moll, den Bates geschickt hat.«
Alyss hatte keine Ahnung, wer dieser Bates sein sollte, doch sie vermutete, dass es sich um den Käufer des Salamanders handelte. Ein Mann mit dicker Knollennase, die rot in seinem Gesicht leuchtete, erschien kurz darauf hinter der Frau.
»Na, herzlich willkommen in der Silbernen Nixe«, sagte er und grinste übers ganze Gesicht. »Wir haben dich schon erwartet.«
Alyss trat ein und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
Verpasst
Mittwoch, 11. September 1619
Um Alyss ja nicht zu verpassen, hatte Jack sie eigentlich vor dem Pfandhaus abfangen wollen. Doch dann hatte Moll ihn dort entdeckt und mit Eliza auf Diebestour geschickt. Statt in der Gasse plante er jetzt Alyss direkt am Jahrmarkt aufzuhalten. Hoffentlich war sie noch nicht losgezogen. Sie mussten sich beeilen.
»Los, komm schon!«, drängte er Eliza. Die Kleine war vor einem Puppentheater stehen geblieben, das man gleich neben einem Stand mit Zuckeräpfeln errichtet hatte. Die erste Vorstellung des Tages hatte begonnen und Kinder und Erwachsene blickten gebannt auf die kleine Bühne. Ein Teufel mit Hörnern lauerte dort einer Prinzessin auf, doch schon kam ein langnasiger Geselle, der mit einer Pritsche wild auf den Teufel einhieb und ihn erfolgreich verjagte. Das Publikum johlte laut vor Vergnügen. Auch die kleine Eliza lachte fröhlich mit.
»Los, komm!«, wiederholte Jack. »Dalli, dalli. Wir haben dazu keine Zeit.« Doch ahnungslos, was den Jungen so zur Eile antrieb, rührte sie sich nicht von der Stelle.
»So ’n Käse. Klar haben wir Zeit.« Eliza ließ sich nicht so leicht überzeugen. »Maggie und ich waren gestern auch ganz lang hier.« Dann begann sie zu flüstern, die Hand vor dem Mund, damit auch keiner der Umstehenden sie hören konnte. »Wir haben ’ne Menge geklaut. Die Leute wollen doch nur wissen, was der Prinzessin passiert, und merken gar nicht, wenn man ihre Sachen abstaubt. Pass auf!«, rief sie plötzlich, aber sie wollte nur die Prinzessin warnen, dass der Teufel schon wieder hinter der Ecke lauerte.