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Trotz Kopfschmerzen und Übelkeit tastete sie sich langsam am Boden entlang. Irgendwo musste es hier doch einen Ausgang geben. Unter ihren Fingern fühlte sie kalte, feuchte Steinplatten und Stroh, als sie unerwartet gegen etwas Weiches, Warmes stieß.

»He, bleib, wo du bist! Hier unten ist’s ’n bisschen eng.« Es war die Stimme eines Jungen. »Na, hast du endlich ausgeschlafen? Wir haben schon fast gedacht, dass du überhaupt nicht mehr aufwachst.«

Aus einer anderen Ecke hörte man das leise Schlagen von Stein auf Stein. Dann glimmte es hell und eine Kerze flackerte auf. Aus allen Richtungen starrten sie blasse Gesichter an, die im Schein der Flamme gespenstisch wirkten. Mehrere Kinder, große und kleine, Mädchen und Jungen, alle mit verfilzten Haaren und schmutzigen Gesichtern, musterten sie neugierig.

»Wie lange bin ich schon hier?«, fragte Alyss. Ihr Magen zog sich zusammen, und sie schaffte es nur mühsam, sich nicht zu übergeben.

»Erst seit heute früh. Aber du warst ganz schön lange weggetreten«, antwortete der Junge, den sie im Dunkeln versehentlich berührt hatte. Er war älter als die anderen und schien sich als ihr Sprecher ernannt zu haben.

»Aber wo bin ich? Wer seid ihr?«

»Da, trink erst mal.« Der Junge schöpfte eine Kelle voller Wasser aus einem Holzeimer. »Wir wissen genau, wie du dich fühlst. Uns ging’s ebenso. Wetten, du denkst, du hättest ’nen Teller Sand verzehrt, dir ist kotzübel und dein Schädel brummt.«

Der Junge hatte es erfasst.

»Das kommt von dem Schlafpulver, das sie in den Fraß mischen.«

»Schlafpulver?« Alyss hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Doch sie griff nach der Kelle und trank. Das Wasser schmeckte abgestanden, aber sie fühlte sich schon ein wenig besser.

»Also, wo sind wir hier?«

»’ne gute Frage. Da tappen wir sozusagen im Dunkeln.« Er grinste.

»Und wie seid ihr hierhergekommen?«

»Genau wie du vermutlich. Ist immer die gleiche Geschichte. Erst locken sie dich unter ’nem Vorwand in die Schenke, tun zutraulich und geben dir was zum Futtern. Ach wie nett, denkst du und verputzt das Zeug, ahnungslos, dass sie dir gleichzeitig ’n Schlafmittel verpassen. Und wenn du dann hinterher in diesem Loch aufwachst, ist sowieso alles zu spät.«

»Der Apfelkuchen!« Alyss fiel wieder der bittere Geschmack der Füllung ein. Danach war sie ohnmächtig geworden.

»Apfelkuchen«, staunte der Junge. »Da haben sie dich aber wie ’ne Prinzessin behandelt. Bei mir gab’s nur ’ne Schüssel Erbsensuppe.«

»Aber wieso tun sie das?« Alyss verstand nicht, warum jemand sich die Mühe machte, Kinder erst in eine Falle zu locken, sie einschläferte und anschließend in einen Keller sperrte.

»Ist doch logisch. Damit stellen sie ihre Opfer erst mal ’ne Weile still«, erklärte der Junge. »’n schlafendes Kind macht kein Theater. Das ist brav wie ’n Engel. Kein Gebrüll. Verstehst du. Man kann’s mühelos in ’n Versteck verfrachten.«

»Was haben sie mit uns vor?«

»Weiß der Geier«, er zuckte mit den Achseln. »Das würde mich auch interessieren. Rose«, wandte er sich gleich darauf an ein Mädchen mit langen Zöpfen, das den Kerzenstummel in ihrer Hand hielt, »lösch das Licht wieder aus. Wer weiß, wann wir’s noch mal brauchen.«

Folgsam holte das Mädchen tief Luft und pustete die Flamme aus. Einen Moment später war es wieder finster.

»Ich heiße Will Cooke«, kam die Stimme des Jungen jetzt neben ihr aus der Dunkelheit. »Die anderen haben mich zum Anführer dieser armseligen Bande ernannt. Wir sind derzeit sieben. Rose, Peter, Robert, Anne und John«, stellte er die Kinder vor. »Nur wie unser Jüngster heißt, wissen wir nicht. Der ist stumm und hat noch nie ’n Wort von sich gegeben.«

Alyss lehnte sich mit dem Rücken gegen die kalte Wand. Sie fühlte sich wie betäubt. Sie war nach London gezogen, um Onkel Humphreys Häscher zu entkommen, und stattdessen in die Hände von Kinderfängern geraten.

Es hätte nicht schlimmer kommen können. Wie hatte sie nur so einfältig sein können zu glauben, dieser Nathaniel würde ihr den Salamander so einfach zurückgeben. Nein, er hatte darin sicher nur eine günstige Gelegenheit gesehen, ein weiteres Kind in seine Falle zu locken und den Salamander in die eigene Tasche zu stecken. Vielleicht machten er und Moll sogar gemeinsame Sache. Onkel Humphrey hätte es sich nicht besser wünschen können. Ohne sein Dazutun hatte man sie aus dem Weg geschafft. Und während die Ratcliffs sich in Vaters Haus weiter ungestört als Herren aufspielen konnten, würde sie in einem feuchten, dunklen Kellerloch vergammeln. Hatton Hall und der Salamander waren für immer verloren. Alyss musste an den Tag denken, als sie in London angekommen war. Der Trubel auf dem Jahrmarkt und die Zigeunerin, die ihr die Zukunft aus der Hand lesen wollte. »Nimm dich in Acht!«, hatte sie sie gewarnt. »Du schwebst in großer Gefahr.« Die Prophezeiung der Wahrsagerin war in Erfüllung gegangen, und jetzt war es tatsächlich für alles zu spät.

»Und wie haben sie dich zur Silbernen Nixe gelockt?«, riss sie eine freundliche Stimme aus ihren Gedanken. Sie kam aus der Richtung, wo sie im Kerzenlicht ein Mädchen mit langen Zöpfen gesehen hatte. Der Junge hatte sie Rose genannt.

»Ich wollte was abholen, das mir gehört«, erklärte Alyss. »Aber das ist eine lange Geschichte.«

»Erzähl schon«, forderte Will sie auf. »Zeit haben wir massenhaft und außer quatschen oder pennen gibt’s hier sowieso nichts zu tun.«

Alyss zögerte einen Moment. Dann schlang sie ihre Arme um die angezogenen Knie und begann, ihre Flucht nach London und die Abenteuer der vergangenen Tage zu schildern.

»Das gruslige Haus beim Bäcker in der Themsestraße? Das kenn ich«, verkündete Will, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte. »Ich war schon öfters dort. Der Mann zahlt gut.«

»Was? Du kennst Sir Christopher?«

»Na, er bestellt stapelweise neue Wälzer und ich bring die hin.«

Alyss verstand erst, als Will ihr erklärte, dass er öfter Botengänge für die Buchhändler in St. Pauls erledigte und Sir Christopher einer ihrer besten Kunden war.

»Ich hab ja eigentlich nicht viel mit ihm zu tun. Bring ihm nur die Bücher. Aber der Mann ist echt in Ordnung. Dass sein Assistent ’n Knallkopf ist, wundert mich allerdings nicht. So ’n Geizhals! Er rückt nie ’n Groschen raus.«

»Und wie bist du hier gelandet?« Alyss konnte den Zufall kaum fassen, dass Will den Freund ihres Vaters kannte.

»So ’n oller Mann auf ’m Kirchhof von St. Pauls hat mich mit ’nem Brief zu der verfluchten Kneipe geschickt. Hat das Doppelte bezahlt und noch dazu versprochen, dass ich, wenn ich ihn dort abgeliefert hab, noch mal die gleiche Summe kriege. So ’n tolles Angebot lehnt man nicht so schnell ab. Die Erbsensuppe, die mir der Wirt anbot, sah ich noch als ’n extra Bonus. Wusste ja nicht, dass ich danach in ’nem Kellerloch enden würde.«

»Und ihr?«, fragte Alyss in die Dunkelheit hinein.

»Ich war mit ’ner Freundin auf dem Jahrmarkt«, begann Rose, das Mädchen mit den Zöpfen. »Betty wollte sich unbedingt die Meerjungfrau anschauen. Doch das ist ’ne totale Geldverschwendung, wo doch jeder weiß, dass ihr Schwanz nur angenäht ist. Wir haben uns gestritten und sie ist allein in die Bude rein. Eigentlich wollte ich ja draußen auf sie warten, doch dann hab ich ’n Kunden von meinem Vater getroffen, der sich mal bei uns Handschuhe gekauft hat. Als er mich bat, für ihn ’n Päckchen zur Silbernen Nixe zu bringen, hab ich mir nichts dabei gedacht. Immerhin gab er mir ’nen Penny, und damit wollte ich mir später ’nen Zuckerapfel kaufen. Und den Rest«, endete sie ihren Bericht, »kannst du dir denken.«

Danach lauschte Alyss den Schicksalen der anderen Kinder. Alle waren unter verschiedensten Vorwänden in die Schenke gelockt worden. Nur wie der namenlose Kleine im Keller gelandet war, erfuhr sie nicht. Sie versuchte, ihn anzusprechen und ein paar Worte aus ihm herauszubekommen, doch Will hatte recht. Der kleine Junge blieb stumm.