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»Man kann doch in einer Stadt nicht einfach Kinder verstecken, ohne dass es die Nachbarn merken«, überlegte Alyss. »Habt ihr schon laut um Hilfe geschrien?«

»Haben wir längst versucht«, meinte Rose. »Nichts ist passiert. Außer dass ’n Hund zu bellen anfing.«

»Aber auf der Straße neben der Silbernen Nixe würde man uns doch sicher hören.«

»Nicht unbedingt«, behauptete Will. »Hinter der Kneipe, Richtung Fluss, liegen mehrere verfallene Lagerhallen. Da kommt nur selten jemand vorbei. Möchte wetten, die haben uns dorthin verfrachtet.«

»Manchmal kann man den Fluss sogar riechen«, meldete sich eine schüchterne Stimme, die zuvor noch nichts gesagt hatte. »Und man kann die Schiffer hören, wie sie westwärts oder ostwärts rufen.«

»Stimmt«, bestätigte Will. »Wir sind auf jeden Fall immer noch in der Nähe der Themse.«

»Nicht mehr lange«, verkündete eine Jungenstimme von der anderen Seite des Kellers. »Wir haben ’nen Plan. Heute Abend, wenn es dunkel ist ...«

»Pst!«, wies ihn Rose zurecht. »Da kommt jemand. Das ist bestimmt die Alte mit dem Essen.«

Plötzlich bellte draußen ein Hund und dicht über ihren Köpfen erklangen schlurfende Schritte. Erst jetzt bemerkte Alyss die schmalen, hellen Streifen an der Decke. Im nächsten Moment klappte eine Falltür über ihnen auf und helles Tageslicht strömte in den Raum. Sie erkannte das Gesicht der Frau aus der Silbernen Nixe, auch wenn sie die strähnigen Haare jetzt hochgesteckt und eine Haube aufgesetzt hatte. Die Wirtin begann, alte Brotkanten und Äpfel in den Keller zu werfen. Die Kinder grapschten hungrig danach. Nur Alyss rührte sich nicht vom Fleck. Ihr war immer noch schlecht.

»Wir brauchen frisches Wasser«, forderte Will.

»Da müsst ihr bis heute Abend warten«, erwiderte die Frau griesgrämig. Danach fiel die Klappe wieder zu.

»Und wie sieht euer Plan aus?«, fragte Alyss, als die Frau gegangen war und man nur noch Schmatzen und Kauen hörte.

»Wir werden der Alten ’ne Theatervorführung liefern, wie sie noch keine gesehen hat.«

»Eine Theatervorführung?«

»Pfui Teufel!« Man konnte hören, wie Will etwas ausspuckte. »Da sind Würmer in den Äpfeln.« Er spuckte abermals, dann fuhr er fort, ihr Vorhaben zu erklären. »Wenn die Frau heute Abend unser Essen bringt, wird Rose so tun, als sei sie sterbenskrank. Falls die Alte auch nur ’nen Deut Mitgefühl empfindet, wird sie die Leiter runterlassen, um zu sehen, was mit ihr los ist. Während Rose sie dann mit ihren Fieberkrämpfen ablenkt, werde ich verduften und die Wache informieren.«

»Will ist der Älteste und Stärkste«, mischte sich der andere Junge ein. »Er kann am schnellsten rennen und kennt sich in London am besten aus.«

»Und der Hund?«, wandte Alyss ein.

»Der ist kein Problem. Wilde Köter lassen sich meist leicht ablenken. Und wir haben schon ’ne kleine Delikatesse für ihn vorbereitet, ’ne tote Ratte.«

»Was, hier gibt es Ratten?«

»Was denkst ’n du? Ist doch logisch. In ’nem Keller so nah beim Fluss gibt’s immer Ratten.«

Alyss schauderte, doch sie wollte nicht zugeben, dass sie sich vor Ratten fürchtete.

Die nächsten Stunden verbrachten sie mit Warten. Doch jedes Geräusch ließ Alyss an die Ratten denken, die den Kellerraum mit den Kindern teilten. Master Miltons Biester waren wenigstens in einem Käfig gewesen, nicht wie hier, wo sie frei herumliefen. Hin und wieder konnte man das leise Trippeln ihrer Füße auf dem Steinboden hören. Irgendwann spürte sie sogar ein Kitzeln an der Hand. Doch es war nur das Stroh, das man für die Kinder auf dem Boden ausgebreitet hatte. Allmählich verschwanden die hellen Ritzen um die Falltür. Es war dunkel geworden. Da begann der Hund zu bellen. Ein Zeichen, dass sich jemand näherte. Alyss erkannte die schlurfenden Schritte der Wirtin.

Im nächsten Augenblick stieß Rose einen lauten Schmerzensschrei aus. Er war so überzeugend, dass selbst Alyss einen Moment lang glaubte, etwas sei geschehen. Die Schritte hielten an und die Klappe wurde geöffnet. Eine Lampe und das magere Gesicht der Frau erschienen.

»Was ist ’n hier los?« Der Keller war mit einem Mal in helles Licht getaucht. Es war so hell, dass Alyss sich schützend die Hand vor die Augen halten musste. Währenddessen jammerte Rose lautstark weiter, verdrehte ihre Augen, zog die Knie an und wand sich auf dem Boden hin und her.

Jetzt begann auch Will, Theater zu spielen. »Rose geht’s gar nicht gut. Bitte«, beschwor er die Frau, »Ihr müsst ihr helfen.« Er raufte sich die Haare. »Ich fleh Euch an, habt Mitleid mit dem armen Mädchen!«

»Na, das fehlt uns gerade noch«, schimpfte die Frau missmutig. Eine Leiter tauchte in der Öffnung auf, sie raffte ihre Röcke und stieg die Sprossen hinab.

Während sie sich über Rose beugte, kletterte Will flink die Leiter hoch, in seiner freien Hand die tote Ratte. Doch die Frau merkte gleich, dass etwas nicht stimmte. Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie Wills Füße durch die Klappe verschwanden.

»Verflixt und zugenäht!«, fluchte sie und versuchte, nach Wills Füßen zu grapschen. Draußen bellte der Hund wie irre. Ohne weiter auf Rose zu achten, die sich immer noch mit schmerverzerrtem Gesicht von einer Seite auf die andere warf, kletterte die Frau nach oben.

»Fass ihn, Drake!«, rief sie.

»Los! Jetzt oder nie!«, zischte Rose. Sie hatte aufgehört zu lamentieren, war aufgestanden und zur Leiter gesprungen. Doch gerade als sie auf die erste Sprosse steigen wollte, wurde die Leiter nach oben gezogen. Die Klappe fiel krachend zu und die hetzenden Schritte der Frau verklangen in der Ferne. Der Hund bellte immer noch.

Eine nächtliche Aktion

Donnerstag, 12. September 1619

Jack blickte zur Dachluke hoch, wie so oft, wenn er nicht schlafen konnte. Das rechteckige Stück Himmel war heute tintenschwarz, kein einziger Stern war zu sehen. Bis auf das Atmen der anderen Kinder auf dem Dachboden war nicht das leiseste Geräusch zu hören. Die ganze Stadt schien tief zu schlafen. Selbst die betrunkenen Gäste der Schenke an der Ecke, die zuvor laut gegrölt hatten, waren inzwischen nach Hause gegangen und schlummerten nun in ihren Betten. Nur der Ruf des Nachtwächters erklang aus der Ferne. Es war bereits drei Uhr morgens und Jack war immer noch nicht eingeschlafen.

Der Salamander brannte wie Feuer auf seiner Brust. Jack war überzeugt, dass er es war, der ihm den Schlaf raubte. Vielleicht hätte er doch besser die Finger davon lassen sollen. Auch wenn Guy nicht gesehen hatte, was er genau in Molls Schlafkammer gemacht hatte, würde er sicher wie ein Jagdhund wittern, dass etwas im Gange war, und solange herumschnüffeln, bis er herausgefunden hatte, um was es sich handelte. Wenigstens war er bisher noch nicht zu ihr gegangen, um ihn zu verpetzen. Doch was er heute Abend nicht besorgt hatte, konnte er leicht am Morgen nachholen.

Tausende von Gedanken schwirrten durch seinen Kopf. Dieser verteufelte Salamander. Damit hatte er sich sicher noch mehr Schwierigkeiten eingehandelt, als er ohnehin besaß. Wenn irgendjemand erfuhr, dass das Tierchen um seinen Hals hing, würden alle hinter ihm her sein. Jack wälzte sich auf die andere Seite, doch die Gedanken wollten ihm einfach keine Ruhe lassen. Erst als das Stück Himmel in der Dachluke sich langsam purpurn zu verfärben begann, versank er in einen unruhigen Schlaf.

Als Jack am nächsten Morgen erwachte, war kein einziges Wölkchen mehr am Himmel zu sehen und die Herbstsonne fühlte sich noch sommerlich warm an. Auf dem Jahrmarkt herrschte immer noch genauso viel Trubel wie am ersten Tag. Obwohl die Schausteller bereits seit sechs Tagen ihre Buden und Zelte in der Stadt aufgeschlagen hatten, hörte der stetige Besucherstrom nicht auf und für die Taschendiebe gab es weiter jede Menge zu tun. Jack war erleichtert, dass Eliza heute mit Maggie losgezogen war und er allein auf Diebestour gehen konnte. Trotzdem konnte er sich nicht so richtig auf die Arbeit konzentrieren. Als die Mittagsglocken der Erlöserkirche läuteten, hatte er bis auf eine neumodische Taschenuhr und ein paar Silbermünzen nichts erbeutet. Es war Zeit für eine Pause, und mit einem Honigkuchenmann, den er, ohne dass der Verkäufer es bemerkt hatte, entwendet hatte, zog er sich an den Rand der Budenstraße zurück. Er hockte sich auf einen umgedrehten Korb, den jemand dort abgestellt hatte, und brach lustlos ein Stück Backwerk ab. Doch selbst das süße Gebäck wollte ihm heute nicht schmecken. Nur ein Stück die Straße entlang konnte man den Weißen Hirschen sehen und fast gegenüber den rückwärtigen Zeltanbau der Raritätenschau. Ob Alyss’ Onkel sie schon von diesem Nathaniel abgeholt hatte? Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als ihm zwei Hände von hinten die Augen zuhielten.