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»Unser Köder«, rief Will zur Begrüßung. Er hielt ein Päckchen hoch, das er siegessicher hin- und herwedelte. Inzwischen hatte er sein Gesicht gewaschen, doch er trug immer noch das zerrissene Hemd und die schmutzige Hose.

»Wenn der Kläffer das gefressen hat, wird er bald ins Land der Träume eintauchen«, verkündete Kit gleich hinter ihm. »Wir haben es mit ’ner ganzen Flasche Mohnsaft eingerieben.«

Obwohl das Fleisch in einen alten Lappen eingewickelt war, drang der Gestank durch den löchrigen Stoff. Maggie hielt sich die Nase zu.

»Pfui Teufel. Das stinkt ja ekelhaft.«

»Ist es auch«, erwiderte Kit grinsend. »Der Fleischer am Markt hat nichts für den Braten verlangt. Die Maden im Fleisch gab’s auch umsonst dazu.«

Die vier Kinder bogen von der Brücke hinterm Wirtshaus Zum Bären in die Straße ein, die an der Kirche vorbei parallel zum Fluss verlief. Gleich rechts führte die schmale Pepper Alley zur Themse hinab. Dort hatte Kit ihnen vor nur wenigen Tagen vom Zauberer und den Ratten berichtet, doch sein Freund Will hatte ihn inzwischen eines Besseren belehrt. Es gab keine Zweifel mehr, dass es sich um Kindesraub und nicht um Zauberei handelte. Heute Abend gingen sie geradeaus weiter, am Bau der mächtigen Kirche vorüber. Es war gut, dass Maggie daran gedacht hatte, eine Laterne mitzubringen, denn die meisten Häuser auf beiden Seiten der Straße waren bereits dunkel. Nur hinter wenigen Fenstern flackerte noch Kerzenlicht. Es waren auch kaum noch Leute unterwegs. Selbst die Vorführungen der nahen Theater waren längst zu Ende und die Theaterbesucher nach Hause gegangen.

»Ist nicht mehr weit«, sagte Will, als sie von der Hauptstraße in eine kleinere Gasse einbogen. Tatsächlich konnte man die Silberne Nixe bereits von Weitem sehen. Die Schenke war das einzige Haus weit und breit, das noch erleuchtet war. Hinter den schmutzigen Fenstern konnte man trotz der späten Stunde die Umrisse von Zechern erkennen. Ihre grölenden Stimmen tönten bis auf die Gasse hinaus. Gerade traten zwei betrunkene Männer aus dem Eingang. Doch sie beachteten die Kinder nicht, sondern schwankten Arm in Arm die Gasse entlang. Am anderen Ende, wo Stufen zum Fluss hinabführten, riefen sie nach einem Fährboot. Die Kinder folgten Will um die nächste Ecke. Dort hielt er endlich an und deutete auf die Mauer neben einem Toreingang.

»Der Keller liegt dahinter.« Dann begann er das Päckchen in seiner Hand auszuwickeln. Jack bemerkte, wie Maggie nur mit Mühe einen Schrei unterdrückte. Im Schein der Lampe schien sich das Fleisch zu bewegen. Selbst ihn schüttelte es beim Anblick der zappelnden Maden. Im nächsten Augenblick flog das einbalsamierte Fleisch in hohem Bogen über die Mauer. Auf der anderen Seite konnte man das Tapsen von Pfoten hören. Ein Hund bellte kurz auf, knurrte leise und dann hörte man lautes Schmatzen. Er hatte sich auf den Köder gestürzt.

»Es wird sicherlich nicht lange dauern, bis er schläft wie ’n Murmeltier«, meinte Kit zufrieden.

Sie warteten noch eine Weile im Schatten eines Toreingangs. Dann warf Will einen Stein über die Mauer. Er schlug auf dem Erdboden auf der anderen Seite auf, kullerte ein Stück weiter, dann war es wieder still. Der Hund war eingeschlafen.

»Der liegt jetzt erst mal ’ne Zeit lang flach«, kündigte er an und begann über die Mauer zu klettern. Kit folgte ihm flink hinterher. Maggie blickte sich vorsichtig um, dann reichte sie ihm die Laterne hoch. Sie würde auf der Gasse Wache stehen, während die Jungen die gestohlenen Kinder befreiten.

»Ist die helle Lampe nicht zu riskant?«, zweifelte Jack, als er mit einem Sprung neben den beiden anderen im Hof landete. Man konnte das Licht in der Dunkelheit bestimmt meilenweit sehen.

»Der Köter pennt, und sonst ist um diese Tageszeit hier bis auf ’n paar Besoffene niemand unterwegs«, erwiderte Will bestimmt. »Außerdem wär’s ohne das Licht stockfinster und wir würden nichts sehen.«

Im Licht der Lampe erstreckte sich ein verlassenes Grundstück, auf dem Unkraut wucherte. Die dunkle Form am Boden war der schlafende Hund. Auf der anderen Seite des Brachlands stand ein baufälliges Gebäude. Vermutlich war es einst als Lagerhaus benutzt worden, doch jetzt schien es leer. Die Fensterscheiben waren zerbrochen, die Dachziegel lose. Plötzlich raschelte etwas. Jack blieb erschrocken stehen. Dicht vor ihnen huschte ein Schatten vorüber. Doch es war nur eine kleine Maus.

»Hier.« Will war zielstrebig auf den Bau zugegangen und richtete das Licht auf den Boden. »Das ist die Falltür.« Nachdem er die Lampe abgestellt hatte, machte er sich gleich an dem Riegel zu schaffen. Im nächsten Augenblick fiel die Klappe zurück.

»Ned!« Jack stürzte auf das dunkle Loch zu. Doch niemand antwortete. »Ned«, rief er abermals. Wieder nichts. »Alyss?« Er griff nach der Laterne und leuchtete damit in den Keller. Einige dunkle Schatten huschten über den Boden des unterirdischen Raums und fiepten leise, doch ansonsten war der Keller leer. Ned und Alyss waren nirgendwo zu sehen. Die gestohlenen Kinder waren verschwunden.

Ein neues Versteck

Freitag, 13. September 1619

Die Kinderfänger hatten die gestohlenen Kinder auf dem schnellsten Weg an einen anderen Ort gebracht – noch in der gleichen Nacht, in der Will dem Kellerloch entkommen war. Alyss fand das neue Versteck jedoch noch beklemmender als den feuchten Keller. Hierher drang nicht der geringste Schimmer Tageslicht, nicht einmal ein winziger Streifen wie durch die Falltür im Kellerloch bei der Silbernen Nixe. Auch die Ratten waren eine größere Plage. Ständig konnte man leises Fiepen hören und das schnelle Trippeln ihrer Pfoten, wenn sie über den Boden von einer Seite zur anderen huschten. Das Schlimmste daran war, dass sich das neue Gefängnis der Kinder nicht an Land, sondern auf dem Wasser befand.

Selbst wenn Alyss außer pechschwarzer Finsternis absolut nichts sehen konnte, spürte sie trotzdem deutlich, dass sie im Bauch eines Schiffs waren. Sie konnte ein leichtes Schlingern fühlen und Teer, modriges Holz und feuchtes Tauwerk riechen. Genauso hatte es im Schiff ihres Vaters gestunken. Das fortwährende Ächzen und Stöhnen kam zweifelsohne von den Planken und Masten. Und dann war da noch ganz eindeutig das Plätschern von Wasser zu hören, das gegen die Außenwand schwappte. Es lag auf der Hand: Man hatte sie in eines der großen Segelschiffe verlagert, die vom Meer die Themse stromaufwärts nach London segelten. Wahrscheinlich ankerte es an einem der Kais im Hafen von Billingsgate, gleich hinter der Brücke, wo die riesigen Handelsschiffe anlegten, um ihre Waren zu löschen – genau an der Stelle, wo auch die Aurora immer vor Anker gelegen hatte, bevor sie in See stach. Aber sie konnte sich nicht sicher sein, denn an der Themse gab es für die großen Segelschiffe noch eine Reihe weiterer Anlegeplätze. Vielleicht lagen sie auch an einem der Docks am Südufer oder sogar noch weiter flussabwärts.

Alyss, Rose mit den langen Zöpfen und die schüchterne Anne waren von den Jungen getrennt worden. Peter, Robert, John und den stummen Kleinen hatten sie seit der Nacht, in der Will geflüchtet war, nicht mehr gesehen. Wohin es sie verschlagen hatte, wussten sie nicht. Alyss seufzte. Immerhin hatte sich das Schiff seit ihrer Ankunft nicht von der Stelle gerührt. Trotzdem befürchtete sie, dass oben an Deck Vorbereitungen getroffen wurden, die signalisierten, dass es demnächst auf große Fahrt gehen würde. Schon den ganzen Tag lang drangen die gedämpften Rufe der Matrosen nach unten, die geschäftig über die Planken liefen und sich gegenseitig Befehle zuriefen.

Einige Jahre, bevor Ralph Sinclair auf See vermisst wurde, hatte er seine Tochter mit an Bord der Aurora gebracht. Er wollte ihr das Schiff zeigen, auf dem er so häufig in die Neue Welt segelte. Die Mannschaft war damals emsig damit beschäftigt gewesen, Fracht zu laden und das Schiff auf Vordermann zu bringen, denn es sollte bereits am folgenden Morgen mit der Flut in See stechen. Da wurden nicht nur Planken geschrubbt, Segel geflickt und Vorräte für die Besatzung verstaut, sondern auch Waren verschifft, mit denen der Kapitän in fernen Ländern Handel treiben wollte. Sie konnte sich noch gut an die zahlreichen Kisten, Fässer, Säcke und Stoffballen erinnern, die alle in den Laderaum geschleppt wurden. Sogar lebende Schweine und Hühner wurden an Bord geschafft, um die Seefahrer über die nächsten Wochen mit Frischfleisch zu versorgen. Auch wenn Alyss heute nicht sehen konnte, was auf dem Deck dicht über den Köpfen der drei Mädchen vor sich ging, konnte sie das Chaos hören.