Erst gegen Abend, nachdem jemand alten Zwieback durch die Luke in der Decke zu den Mädchen hinabgeworfen hatte, wurde es stiller. Man hörte nur noch gelegentliche Geräusche. Entweder hatte sich die Mannschaft bereits in ihre Hängematten zum Schlafen gelegt, oder sie hatten Landurlaub und waren von Bord gegangen, um sich in den Hafenkneipen zu betrinken. Vielleicht, dachte Alyss, sollten die drei Mädchen die Gunst der Stunde nutzen und versuchen zu entkommen. Auch wenn Alyss nicht schwimmen konnte, gab es an Bord sicher ein kleines Ruderboot, dass sie ins Wasser lassen und womit sie an Land paddeln konnten. Oder sie konnten einen Fährmann auf sich aufmerksam machen.
»Hast du immer noch die Kerze und den Zunder?«, fragte sie Rose, die dicht neben ihr hockte. Rose gab keine Antwort, doch schon gleich darauf klickte es leise, man konnte Funken sehen, dann glimmte ein Licht auf und kurz darauf war der Raum von einer Kerze erhellt.
Im flackernden Licht erkannte Alyss, dass sie richtig geraten hatte. Sie befanden sich in einem der Frachträume im unteren Deck eines Segelschiffs. Um sie herum standen Fässer, die man mit Seilen festgezurrt hatte, damit sie bei Seegang nicht hin und her rollten. Genau in der Mitte des Stauraums strebte ein dicker, runder Holzstamm nach oben zum nächsten Deck. Es handelte sich sicher um einen der Masten, die im Bauch des Schiffes verankert waren. Gleich daneben führte eine schmale Leiter zu einer Luke empor. Alyss verschwendete keinen Augenblick. Obwohl ihre Glieder vom langen Sitzen steif waren und ihr Knöchel wieder schmerzte, kletterte sie flugs die Trittbretter hoch, während Rose mit dem Kerzenstummel den Weg leuchtete. Oben angelangt, rüttelte sie an der Holzklappe und stemmte sich mit aller Kraft dagegen, doch die Luke ließ sich nicht von der Stelle bewegen.
»Himmel noch mal!« Alyss bearbeitete die Klappe wütend mit den Fäusten. »Die haben ’nen Riegel vorgeschoben.«
Rose wollte ihr nicht glauben. Sie drückte Anne die Kerze in die Hand und zwängte sich hinter Alyss die Sprossen hoch. Doch auch zu zweit schafften sie es nicht, die Luke hochzudrücken.
Einen Augenblick später hockten die drei Mädchen wieder nebeneinander auf den modrigen Planken.
»Ich blase die Kerze besser wieder aus, falls wir sie noch mal brauchen sollten«, meinte Anne mit zittriger Stimme. Sie hielt noch immer Roses Kerzenstummel in der Hand. Bevor Anne auf die Flamme pustete und der Raum wieder in Dunkelheit versank, bemerkte Alyss ihr tränenverschmiertes Gesicht. Sie legte tröstend ihren Arm um sie. Doch statt sich zu beruhigen, fing das Mädchen noch stärker zu weinen an.
»Jetzt ist alles aus«, schluchzte sie, erst leise, dann immer lauter. »Wir kommen von diesem verdammten Piratenschiff nie mehr weg. Sicher haben sie schon die Segel gehisst und wir werden jeden Augenblick lossegeln. Dann sind wir den Seeräubern ausgeliefert. Bestimmt wollen die uns in der Fremde verhökern.«
»Ein Piratenschiff, Seeräuber? Wie kommst du denn auf die Idee? Die haben uns hier doch bestimmt nur vorübergehend untergebracht, bis sie einen besseren Ort gefunden haben. Und vergiss Will nicht. Der hat die Wache längst auf unsere Spur gehetzt«, versuchte Alyss Anne zu trösten.
»Und wie soll uns der hier finden?« Sogar Rose begann zu zweifeln. »Selbst wenn er’s schafft, Hilfe zu holen, stoßen die doch nur auf ’nen leeren Keller. Die können ja nicht riechen, dass man uns wie Säcke voller Rüben auf ’n Schiff verfrachtet hat.«
Plötzlich war sich auch Alyss nicht mehr sicher, ob sie je wieder hier herauskommen würden. Was, wenn sie und die anderen beiden Mädchen tatsächlich Teil der Ladung eines Piratenschiffs waren? Sie hatte von Seeräubern gehört, die einsame Siedlungen an der Küste überfielen, Frauen und Kinder entführten und als Sklaven in ferne Länder verkauften. Angeblich waren weiße Frauen in den Palästen des Orients sehr beliebt. Aber Piraten gab es nur auf hoher See, nicht mitten in einer Großstadt wie London. Vor Seeräubern waren sie hier bestimmt sicher. Was hatten die Kinderfänger nur mit ihnen vor?
»Wir könnten laut um Hilfe rufen«, schlug Anne zaghaft vor. Sie hatte aufgehört zu weinen und schnäuzte sich geräuschvoll die Nase. »Vielleicht kann uns ein Matrose im Hafen hören.«
»Ja, oder einer der Fährleute auf dem Fluss«, fügte Rose hinzu. »Dass wir darauf nicht schon früher gekommen sind! Hilfe! Hilfe!«, begann sie so laut wie möglich zu rufen. Auch Alyss stimmte in die Hilferufe ein, doch es gelang ihr nicht mehr als ein klägliches Krächzen. Ihre Kehle fühlte sich ausgetrocknet und kratzig an. Auch die anderen beiden klangen nur wie heisere Krähen. Niemand würde sie hören.
Danach verfielen die Mädchen in bedrücktes Schweigen. Jede hing ihren eigenen Gedanken nach. Alyss dachte wie so oft an die Abenteuer der vergangenen Tage zurück. Es war noch nicht einmal eine Woche her, dass sie von zu Hause aufgebrochen war, um Onkel Humphreys Häscher zu entrinnen und die habsüchtigen Ratcliffs aus Hatton Hall zu beseitigen. Doch seit ihrer Ankunft in London war tatsächlich alles schiefgelaufen.
Erst gestern war sie überzeugt gewesen, dass sich die Prophezeiung der Zigeunerin bereits erfüllt hatte, ahnungslos, dass es noch schlimmer kommen würde und sie jetzt auf einem Schiff festsaß. Möglicherweise sogar auf einem Piratenschiff. Wenn es so weiterging, würde sie vermutlich tatsächlich bald in einem Harem in Kairo oder Konstantinopel landen. Wenigstens hatte sie die halsbrecherische Bootsfahrt überlebt. Unwillkürlich fiel ihr wieder ein, was vergangene Nacht geschehen war. Es war grauenvoll gewesen. Allein beim Gedanken daran wurde es ihr übel.
Die Kinder waren zunächst in Jubelrufe ausgebrochen, als der Hund endlich aufgehört hatte zu bellen und nur noch die Frau laut geflucht hatte. Will hatte es geschafft! Er würde sofort zur Wache eilen und Hilfe holen. Alle waren überzeugt gewesen, dass man sie jetzt in absehbarer Zeit aus dem dunklen Kellerloch befreien würde. Doch dieser Traum war schon kurz darauf wie eine Seifenblase zerplatzt, als die Frau mit dem Wirt zurückgekehrt war.
»Dummes Weib«, hatte der Mann vor sich hin geschimpft. Er hatte so laut gesprochen, dass man im Keller jedes Wort deutlich hatte hören können. »Der Bengel kommt sicher schnurstracks mit ’nem Wachmann im Gefolge zurück. Dann sind wir geliefert und das ganze Geschäft fliegt auf. Das können wir keinesfalls riskieren. Wir müssen die Gören noch heute Nacht zum Schiff bringen.«
»Jetzt gleich?«, hatte die Frau gefragt. Ihre Stimme war noch schriller geworden, als sie es für gewöhnlich war. »Aber dazu ist’s doch viel zu spät. Die Brücke ist längst dicht. Da kommst du heute mit ’nem Karren nicht mehr rüber.«
»Hab ich auch gar nicht gesagt, dass ich über die Brücke will«, hatte der Mann gekontert. »Wir werden unten drunter durchfahren.«
»Bist du jetzt total verrückt geworden? Ist doch viel zu gefährlich.«
»Und? Hast du vielleicht ’ne bessere Idee? Dank deiner Dummheit bleibt uns gar nichts anderes übrig. Na los! Dalli, dalli! Hol Pete, bevor der Junge mit dem Wachmann im Schlepptau zurückkehrt.«
»Der Kapitän wird sicher ausrasten. Du kennst ihn doch selber.«
»Na, daran hättest du früher denken sollen, bevor dir der Junge entwischt ist.«