»Aber ...«, begann sich die Frau zu verteidigen, doch der Mann fuhr ihr über den Mund.
»Halt’s Maul! Oder soll ich dich zu den Gören stecken? Na los. Geh schon und sag Pete, dass er unten am Fluss auf uns warten soll.«
Es dauerte nicht lange, bis die Frau von ihrem Botengang zurückgekommen war und sie und der Wirt die Kinder, eins nach dem anderen, aus dem Keller geholt hatten.
»Lasst mich sofort los«, hatte Alyss lautstark gefordert, als sie an der Reihe war und der kräftige Mann sie die Leiter hochgeschleppt hatte. »Und gebt mir endlich meinen Salamander zurück.«
Doch der Wirt hatte nur gelacht. Er hatte dem Mädchen einen alten Lappen in den Mund gestopft und einen Sack über den Kopf gestülpt. Alyss, die immer noch die Nachwirkungen des Betäubungsmittels spürte, war es plötzlich schlecht geworden. Der Lappen hatte ekelhaft geschmeckt und im Sack hatte es nach feuchter Erde und verfaulten Rüben gerochen. Trotzdem durfte sie sich auf keinen Fall übergeben. Mit dem Knebel im Mund würde sie dabei sicher nur qualvoll ersticken. Sie hatte schreien wollen, aber es war ihr nur gelungen, tonlos zu stöhnen.
Erst als sie angefangen hatte, wild um sich zu schlagen, hatte jemand ihre Hände grob hinter den Rücken gezogen und ihre Handgelenke mit einem Strick umwickelt. Mit den Füßen war das Gleiche geschehen, wobei das Seil schmerzhaft in ihre Haut geschnitten hatte.
Danach hatten sie zwei kräftige Hände gepackt, die sie wie einen Sack über eine Schulter geschwungen hatten. Alyss hatte gespürt, wie sie fortgeschleppt wurde. Dass sie wie wild mit den gefesselten Beinen gekickt hatte, schien ihren Träger nicht gestört zu haben. Immer wieder hatte sie versucht, den Knebel auszuspucken, doch sosehr sie auch ihre Zunge bewegt und gewürgt hatte, der eklige Lappen saß fest. Es war ausweglos. Schon wenig später wurde sie unsanft mit einem lauten Plumps auf etwas Hartem abgeladen.
Unter ihr hatte es zu schwanken begonnen, doch als sie mit ihren gebundenen Händen den Boden abgetastet hatte, hatte sie gleich gemerkt, dass es sich um die feuchten Planken eines Ruderboots handelte. Dem Wirt war es ernst gewesen. Er wollte tatsächlich die Passage unter der Brücke wagen. Alyss schauderte. Sie hatte das Holzbrett nicht vergessen, das in der reißenden Strömung unter der Brücke auf und ab gehüpft und schließlich untergetaucht war.
Von Jack hatte sie erfahren, wie schwierig es war, ein Boot unter den Brückenbögen durchzusteuern, und wie viele Boote dabei kenterten. Sein eigener Vater war unter der Brücke ertrunken. Alyss wollte keinesfalls das gleiche Schicksal erleiden und hatte begonnen, mit ihren gefesselten Beinen auf den Boden zu trommeln. Doch außer dass sie sich dabei selber Schmerzen zufügte, erreichte sie nichts.
Schon im nächsten Augenblick hatte sich das Boot schaukelnd in Bewegung gesetzt. Plötzlich hatte ihr Herz zu rasen begonnen. Sie hatte nach Luft schnappen wollen, doch mit dem Sack über dem Kopf kam sie sich wie ein Fisch an Land vor. Obwohl ihr schrecklich heiß geworden war, hatte sie am ganzen Körper zu zittern begonnen.
Das Letzte, was sie gehört hatte, waren die Ruder, die leise quietschend rhythmisch ins Wasser tauchten. Danach hatte sie das Bewusstsein verloren. Von der gefährlichen Passage im reißenden Wasser unter dem Brückenbogen hatte sie nichts mitbekommen. Als sie wieder aufgewacht war, hatten die Häscher die drei Mädchen bereits im Unterdeck des großen Segelboots verstaut.
Alyss rieb sich die Knöchel. Sie konnte die Einschnittstellen des Stricks immer noch spüren. Wenigstens hatten sie die Fesseln gelöst und Sack und Knebel entfernt. Vermutlich wussten sie genau, dass es für ihre Gefangenen ohnehin keinen Fluchtweg gab. Alyss musste an die Jungen denken.
»Meint ihr, die Jungs sind auch hier an Bord?«, fragte sie kurz darauf. Doch die beiden Mädchen antworteten nicht. Stattdessen konnte man nur leises Atmen hören. Anne war an ihre rechte Schulter gelehnt eingeschlafen und Rose schnarchte leise an ihrer linken Seite. Zwischen den Mädchen eingeklemmt, machte Alyss es sich so bequem wie möglich. Man konnte immer noch das Wasser des Hafenbeckens gegen die Außenwand des Schiffs schwappen hören, auch das Holz ächzte und knarzte noch immer, ansonsten war es still geworden. Selbst von oben drang kein Geräusch mehr in den Schiffsbauch. Alle schliefen, selbst die Ratten. Nur Alyss lag noch lange wach.
Ein belauschtes Gespräch
Samstag, 14. September 1619
»Wo ist Maggie?« Kit blickte erwartungsvoll die Straße entlang.
Sie hatten ausgemacht, sich am Morgen nach der erfolglosen Aktion wieder beim Verrätertor zu treffen. Von dort wollten sie noch einmal zum Keller zurück, um sich in der Gegend genauer umzuschauen. Bei Tageslicht sah alles immer anders aus, und vielleicht hatten die Verbrecher versehentlich Spuren hinterlassen, die verrieten, wohin die gestohlenen Kinder verschleppt worden waren.
»Maggie konnte nicht mit«, erklärte Jack kurz. »Sie muss auf Eliza aufpassen.« Tatsächlich wäre Maggie nur allzu gerne mit den Jungs losgezogen, doch keiner aus Molls Bande hatte sich bereit erklärt, Eliza mit auf Diebestour zu nehmen. Ihr war deswegen nichts anderes übrig geblieben, als sich selbst um sie zu kümmern. Einen Augenblick lang blitzte es enttäuscht in Kits Augen auf, dann spuckte er in die Gosse, schob seine Mütze auf dem Kopf zurecht und blickte von Jack zu Will.
»Na, dann los. Mal schauen, ob wir das Rätsel der verschwundenen Kinder knacken können.«
Schon wenig später bogen sie in die Gasse ein, in der die Schenke Zur Silbernen Nixe lag. Im hellen Morgenlicht wirkte alles noch verwahrloster als in der Nacht. Sie wollten gerade weiter zum verfallenen Lagerhaus und dem Keller gehen, als Will jäh stehen blieb.
»Heiliges Kanonenrohr!«, rief er. »Was hat der denn hier verloren.« Er schlüpfte schnell in den Hofeingang neben der Schenke und gab den anderen hektische Handzeichen, ihm zu folgen.
Jack blickte sich um, doch es fiel ihm nichts Merkwürdiges auf. Eine junge Frau, die einen Korb mit glitzernden Fischen auf dem Kopf trug, kam vom Fluss hoch. Ein Mann mit einem Karren, auf dem sich Hühnerkäfige stapelten, eilte in die entgegengesetzte Richtung. Die Hühner gackerten lautstark. An den Stiegen am Fluss lud ein Schiffer Brennholz auf eine Barke. Ein Mann mit langen dunklen Haaren kam gerade von der Fährstelle hoch. Das war doch ... Natürlich! In London gab es sicher keinen zweiten Menschen mit einer so großen Nase. Es war Master Smyth, der Händler von St. Pauls, bei dem Moll ihren Tabak kaufte. Jetzt schritt der Mann zielstrebig die Gasse entlang genau auf sie zu.
»Aber das ist nur Master Smyth.« Für alle Fälle hatte sich Jack doch zu den anderen Jungs in den Hofeingang gesellt. »Ich kenn den Mann. Der ist harmlos.«
»Harmlos? Nee, harmlos ist der bestimmt nicht.« Will schüttelte den Kopf. »Das ist der Mann, der mich mit ’nem Brief zur Silbernen Nixe geschickt hat.«
»Was?« Jack verstand nicht. »Master Smyth, der Tabakhändler?«
»Smyth? Tabakhändler? Keine Ahnung, wer der Kerl ist«, erwiderte Will. »Doch die lange Nase würde ich überall wiedererkennen.«
Jack spähte vorsichtig um die Ecke. Er konnte gerade noch sehen, wie Master Smyth in die Schenke trat. Er war so groß, dass er sich bücken musste, um seinen Kopf nicht am Türstock zu stoßen.
»Dieser Dreckskerl«, schimpfte Will. »Hat mir Geld versprochen und mich stattdessen in einen Keller gelockt.« Vor lauter Aufregung war seine Stimme immer lauter geworden.
»Psst!«, wies ihn Kit zurecht. »Halt die Klappe, sonst wissen es gleich alle Nachbarn.« Mit einer leichten Kopfbewegung wies er auf eine Frau, die auf der Gasse eine Ziege an einem Strick hinter sich herzog. Die Alte musterte die Kinder im Torweg zwar neugierig, ging jedoch wortlos vorüber.