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»Wäre das nicht etwas riskant?«, scherzte der Tabakhändler. »Mir sind Eure Künste mit Mohnsaft nur allzu bekannt.« Dann wurde er wieder ernst. »Ich habe noch andere Geschäfte zu erledigen. Trotzdem vielen Dank fürs Angebot.« Er stand auf.

»Und was macht ihr hier?« Keiner der drei Jungen hatte bemerkt, wie sich die Hintertür der Kneipe geöffnete hatte und die Frau des Wirts mit einem Holzkübel voller Gemüseabfall auf den Hof getreten war. »Nichtsnutziges Gesindel«, rief sie. »Haut sofort ab!« Dann leerte sie den Inhalt des Kübels in hohem Bogen auf die Gasse hinaus.

Die Jungen ließen sich nicht zweimal auffordern und rannten los. Dabei wäre Will um ein Haar über ein Schwein mitsamt seinen drei Ferkeln gestolpert, die sich hungrig auf die Gemüsereste stürzten. In genau diesem Augenblick erkannte die Frau Will.

»Moment mal, du bist der Bengel, der uns gestern entwischt ist! Nathaniel«, rief sie mit schriller Stimme nach ihrem Mann. »Nathaniel, komm schnell!«

Doch als der Wirt zur Tür kam, waren die Jungen längst die Gasse hinunter und um die nächste Ecke verschwunden. Erst neben dem runden, hohen Bau des Theaters blieben sie stehen. Will lehnte sich atemlos gegen die Wand.

»Das war knapp«, keuchte er.

»Ja«, meinte Kit, nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren. »Um ein Haar wären wir vermutlich alle drei im Keller gelandet.«

»Seltsame Geschichte mit diesem Salamander«, meinte Will immer noch außer Puste. »Das Mädchen in den Jungenklamotten hat uns im Keller davon erzählt.«

Automatisch tastete Jack wieder nach dem Beutel unter seinem Hemd. »Ist nicht unser Problem«, meinte er schnell. »Auf jeden Fall müssen wir ruck, zuck was unternehmen, jetzt wo wir wissen, was die Kerle planen.«

Kit nickte. »Ich kann es immer noch nicht fassen. Sammeln Kinder in den Straßen der Stadt ein und schicken sie in die Neue Welt, um sie dort gegen Tabak einzutauschen. Oder hab ich da was falsch verstanden? Denen werden wir die Suppe ordentlich versalzen.«

»Und wie sollen wir das auf die Schnelle tun?«, fragte Will zweifelnd. »Ihr wisst doch selber, dass es in London massenweise Schiffe gibt, und sie wollen schon morgen lossegeln.«

»Ist kein Problem. Ich ...« Jack hielt inne. Ein Mann, der aus dem Seitenausgang des Theaters getreten war, war vor ihm stehen geblieben, lüftete seinen Hut und verbeugte sich.

»Einen wunderschönen guten Tag, die Herrschaften.«

Will und Kit warfen sich einen fragenden Blick zu. Was wollte dieser Mann in der seidenen Weste, dem Spitzenkragen und dem Perlenohrring von ihnen? Doch Jack hatte ihn gleich wiedererkannt. Es war der feine Herr, den er bei den Irren in Bedlam getroffen hatte. Heute trug er ein modisches Cape über einer bestickten Weste, das er lässig über seine linke Schulter geworfen hatte. Jack nickte ihm artig zu.

»London ist tatsächlich ein Dorf«, meinte der Mann. »Hast du deinen Bruder inzwischen gefunden?«

Jack schüttelte den Kopf. »Nein, aber wir sind ihm dicht auf der Spur.«

»Na, dann weiterhin viel Glück.« Er strich sich die welligen, gepflegten Haare mit der Hand hinter die Ohren und setzte seinen Hut auf. Im Weitergehen murmelte er leise vor sich hin. »Verschwundene Kinder. Vielleicht sollte ich darüber mal ein Stück schreiben.«

»Und?«, forderte Kit Jack auf, nachdem der Mann gegangen war. »Du sagtest, es sei kein Problem. Wieso?«

»Ich kenn den Kapitän«, verkündete Jack endlich.

»Du kennst den Kerl? Echt? Wie heißt sein Schiff und wo liegt es vor Anker?«

»Das weiß ich nicht, aber ich hab ’ne Idee, wo ich’s rausfinden kann.«

Dann teilte er den beiden Jungen mit, woher er den Kapitän kannte und dass er ganz einfach Moll nach dem Namen des Schiffs fragen konnte.

»Menschenskinder! Das sind ja endlich mal gute Nachrichten!« Kit schlug Jack anerkennend auf die Schulter. »Dann ziehst du am besten gleich los und sprichst mit der Alten. Kurz nach Mittag treffen wir uns dann in der Pepper Alley. Dann arbeiten wir ’nen Plan aus, wie wir die Kinder befreien können. Und vergiss nicht wieder, Maggie mitzubringen.« Er zwinkerte ihm verschmitzt zu.

»Na, dann bis später«, meinte Jack. Er hob die Hand zum Gruß und rannte los. Mit etwas Glück würde er Moll zu Hause antreffen. Doch als er wenig später in der Gasse vor dem Pfandhaus ankam, hatte er plötzlich ein ungutes Gefühl. Guy stand hämisch grinsend vor der Ladentür. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

»Moll will mit dir sprechen«, erklärte er. »Sie wartet in der Küche auf dich.«

Der Häscher

Samstag, 14. September 1619

Alyss hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte und welche Tageszeit es war. Auf dem Deck oben war es immer noch ruhig. Nur die Schiffsratten huschten über den Boden, die Planken knarrten und die Wellen plätscherten beharrlich gegen die Schiffswand. Wenigstens schien das Schiff immer noch im Hafen oder an einem der Kais am Flussufer vor Anker zu liegen, denn es schlingerte nur sanft. Doch dann erwachte alles langsam wieder zum Leben. Über ihren Köpfen, auf dem Zwischendeck, ertönten Schritte und laute Stimmen und von draußen drangen die Rufe der Schiffer und Möwengeschrei in den Schiffsbauch.

Alyss hatte wieder ihren Traum geträumt. Das Schiff ihres Vaters auf den haushohen Wellen, die dunklen Wolken, der Sturm und der Vater, der ihr zuwinkte. Doch heute war der Albtraum noch unerträglicher als sonst gewesen. Sie hatte das Gesicht ihres Vaters nicht erkennen können. Statt des vertrauten, wettergegerbten Antlitzes hatte sie nur eine verschwommene Fläche gesehen. Das Entsetzlichste daran war, dass sie sich, nachdem sie aufgewacht war, nicht mehr an das Gesicht ihres Vaters erinnern konnte. Sosehr sie auch versuchte, sich seine Gesichtszüge ins Gedächtnis zu rufen, konnte sie doch immer nur einen Flecken sehen, als hätte jemand mit einem feuchten Lappen die Tinte verwischt. Das Meer hatte nicht nur ihren Vater verschluckt, sondern auch sein Bild ausgelöscht. Tränen traten Alyss in die Augen und kullerten die Wangen hinab. Plötzlich spürte sie, wie eine Hand nach der ihren griff und sie fest drückte. Rose war aufgewacht.

»Das wird schon wieder werden«, ermutigte sie Alyss leise. »Mein Vater hat inzwischen bestimmt alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mich zu finden. Und Will sitzt sicher auch nicht auf der faulen Haut. Wetten, wir sind bald wieder frei.« Rose streichelte ihre Hand. Es tat gut, getröstet zu werden, und Alyss kuschelte sich dicht an das ältere Mädchen.

»Ich hab niemanden, der nach mir sucht«, kam Annes leise Stimme von der anderen Seite. Auch sie war wach.

Alyss wischte sich mit einem Zipfel ihres Hemds die Tränen aus dem Gesicht. Immerhin war sie hier unten nicht allein. Die anderen beiden Mädchen waren bei ihr.

»Ich hab auch niemanden«, tröstete Alyss Anne, obwohl sie im Stillen immer noch hoffte, dass Sassa oder Jack vielleicht doch die Straßen der Stadt nach ihr abkämmten.

Den restlichen Tag verbrachten die Mädchen damit, sich im Dunkeln zu unterhalten. Im Vergleich zu Anne hatte Alyss bisher ein sorgloses Leben geführt. Annes Vater hatte das Mädchen und seine Mutter bereits vor Jahren im Stich gelassen. Mutter und Tochter mussten für reiche Leute Wäsche waschen, um zu überleben. Das ging zunächst recht gut. Sie verdienten sogar genug Geld, um sich ein Zimmer mieten zu können. Eines Tages fing die Mutter jedoch an, Blut zu husten. Sie wurde immer dünner und starb schließlich letztes Frühjahr. Anne wurde vom Vermieter auf die Straße gesetzt und musste sich allein durchschlagen. Sie bettelte und schlief in Hofeingängen. Vor einer Woche traf sie dann auf eine Frau, die ihr für die Nacht ein Dach über dem Kopf und ein warmes Essen anbot. Natürlich schlug sie dieses Angebot nicht aus. Sie konnte ja nicht ahnen, dass man sie in eine Falle gelockt hatte. Bei der Frau hatte es sich um die Wirtin der Silbernen Nixe gehandelt.