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Auch Rose erzählte von ihrer Familie. Sie hatte mehrere jüngere Schwestern und einen Bruder, der noch Windeln trug. Sie vermisste ihre Mutter und die Geschwister. Besonders den kleinen Bobby. Sie wollte unbedingt so bald wie möglich nach Hause zurück, um seine ersten Schritte nicht zu versäumen.

Den ganzen Tag lang drang vom Deck und vom Hafen her eine Flut von Geräuschen ins Gefängnis der Mädchen. Später verklang der Lärm allmählich wieder. Vermutlich hatten die Seeleute Feierabend gemacht und waren wie am Vorabend in die Kneipen des Hafenviertels gezogen. Wieder konnte man nur noch die Wellen, die knarrenden Planken und die Ratten hören. Doch plötzlich wurde die Stille von Stimmen und Fußgetrappel unterbrochen. Die Schritte hielten dicht über ihren Köpfen an. Dann wurde die Luke geöffnet und eine Lampe tauchte in der Öffnung auf. Nach der langen Dunkelheit blendete das grelle Licht so sehr, dass die Mädchen sich anfangs schützend die Hände vor die Augen halten mussten.

»Dort unten ist noch Platz für mindestens zwei weitere Gören«, brummte eine Männerstimme. Sie gehörte dem gleichen Matrosen, der ihnen früher am Tag Brot und einen Kübel Trinkwasser gebracht und den Eimer, den sie als Toilette benutzten, ausgeleert hatte.

»Na los Bürschchen, zack, zack«, hörten sie ihn befehlen. »Geh schon runter. Wir haben nicht ewig Zeit.«

»Aber ich will nicht«, beschwerte sich eine weinerliche Jungenstimme. »Ich will heim.«

»Für die nächsten Wochen ist das dort unten«, meinte der Mann. »Los, geh schon! Oder willst du lieber, dass ich dir ’ne Tracht Prügel verpasse?«

Im nächsten Augenblick kamen schuhlose Füße die Sprossen der Leiter hinab. Sie gehörten einem Jungen, nicht älter als sechs Jahre alt, der die Mädchen ängstlich ansah. Seine Hose und sein Hemd waren zerschlissen, seine Haare verfilzt. Alyss rückte zur Seite, um dem Kleinen Platz zu machen. Ihm folgte ein älterer Junge, dessen Kleidung nicht viel besser aussah. Er zwängte sich wortlos neben eines der Fässer.

»Im Stauraum bei den Jungs im Heck ist noch mehr Platz«, vernahmen sie eine andere Stimme. »Bring die restlichen Gören dorthin.«

Und schon klappte die Luke über ihnen mit einem dumpfen Schlag zu. Wieder umhüllte tintenschwarze Dunkelheit die gefangenen Kinder. Doch noch bevor die Mädchen die beiden Neuankömmlinge nach ihren Namen fragen konnten, näherte sich abermals Besuch. Die Klappe öffnete sich aufs Neue und wieder leuchtete eine Laterne nach unten.

»Nathaniel hat gesagt, dass sie hier unten bei den anderen Gören ist.« Dieses Mal war es nicht der Matrose, der ihnen das verschimmelte Brot gebracht hatte, sondern ein fremder Mann. Trotzdem kam Alyss die tiefe Stimme bekannt vor. Allerdings fiel ihr beim besten Willen nicht ein, woher. Sie blickte nach oben, aber das helle Lampenlicht blendete sie zu sehr, um zu erkennen, wer die Laterne hielt. »Ich kann insgesamt drei Jungs sehen«, fuhr der Mann fort, »allerdings weiß ich nicht, welcher davon der richtige ist. Aber du erkennst sie ja zweifellos, trotz ihrer Maskerade.«

Alyss blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Sprach der Mann etwa von ihr? Sie war die Einzige hier unten, die verkleidet war und Jungenklamotten trug.

Neben dem Träger der Lampe tauchte eine weitere Person auf, zuerst ein dunkler Schatten, der sich langsam in ein Gesicht verwandelte.

»Nein!«, stieß Alyss hervor. Das konnte nicht sein! Doch die winzigen Schweinsaugen, das Doppelkinn und die breiten Lippen waren ihr nur allzu vertraut. In der Luke, neben dem Unbekannten, blickte Onkel Humphrey nach unten.

»Wahrhaftig, dort in der Ecke, das ist mein liebes Täubchen«, säuselte er jetzt. »Wie wunderbar, dass wir dich endlich gefunden haben.« Die Worte des Onkels trafen Alyss wie ein Schwerthieb. Augenblicklich fiel ihr auch wieder ein, wo sie die Stimme des anderen Mannes zuvor schon gehört hatte. Es war zu Hause in Hatton Hall gewesen, als sie in der Bibliothek, im Priesterloch hinter dem Regal, ihren Onkel und den fremden Besucher belauscht hatte. Die Stimme gehörte dem Mann mit der großen Adlernase, Onkel Humphreys Häscher.

Der dunkelhaarige Fremde gab einem Matrosen den Befehl, Alyss nach oben zu holen, und sosehr sie sich auch dagegen wehrte, um sich trat und kratzte, sie hatte nicht die geringste Chance. Der Matrose war daran gewöhnt, in tobenden Stürmen schwere Segel einzuholen – ein wildes Mädchen zu bändigen, war dagegen ein Kinderspiel. Einen Augenblick später stand Alyss vor dem Onkel, der ihr mit der Lampe ins Gesicht leuchtete.

»Das verirrte Lämmchen ist zurückgekehrt«, meinte er spöttisch. »Alyss Sinclair, wenn dein Vater nur wüsste, was für ein unartiges Mädchen du gewesen bist. Einfach so bei Nacht und Nebel davonzulaufen. Hat dir niemand gesagt, wie gefährlich es in der Großstadt ist?« Sein teuflisches Lächeln war unerträglich. Alyss hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt.

»Bring sie in die Kapitänskajüte hoch«, befahl der Häscher dem Matrosen, der sie mit eisernem Griff grob am Arm gepackt hatte. Alyss warf den Männern giftige Blicke zu.

Durch einen Niedergang kletterten sie auf ein Zwischendeck hoch und wenig später hatten sie eine Kajüte erreicht. Sie war spärlich mit einer Koje, einem Tisch und mehreren Hockern eingerichtet. Auf der anderen Seite stand eine Truhe, auf die sie der Matrose unsanft niederdrückte. Alyss blickte sich um. Ob es hier vielleicht einen Fluchtweg gab? Doch da war nicht einmal ein Fenster, das groß genug war, um in die Themse zu springen, abgesehen davon, dass sie sowieso nicht schwimmen konnte. Durch die Tür zu schlüpfen, war ebenso ausgeschlossen, denn dort hatte sich der Matrose breitbeinig aufgebaut.

»Soll ich sie fesseln, Sir?«, fragte er jetzt.

Der Häscher überlegte einen Augenblick. Dann nickte er. »Vielleicht besser so«, meinte er. Wir wollen doch nicht, dass die Kleine uns noch mal entwischt.«

Geschickt band der Seemann Stricke um ihre Fesseln und Handgelenke, die sich noch vom letzten Mal wund anfühlten. Wenigstens blieb ihr der Knebel erspart. Danach verließ er die Kajüte. Der Häscher hatte sich an den Tisch gesetzt und schob eine Seekarte und einen Kompass beiseite.

»Kapitän Bates lässt mich zwar gelegentlich seine Kajüte für geschäftliche Verhandlungen benutzen, doch wo er seinen Rum verstaut, weiß ich leider nicht. Allerdings hätte ich da ein feines Kraut aus Virginia anzubieten.« Er reichte dem Onkel seinen Tabakbeutel und bald füllte sich die Kajüte mit Rauchwolken. An jenem Abend in der Bibliothek von Hatton Hall hatte es genauso ekelhaft gerochen. Wie damals kratzte Alyss der Rauch im Hals.

»Tut mir wirklich leid«, fuhr der Häscher fort, »dass der Kapitän und diese Frau von dir ein Lösegeld für das Mädchen gefordert haben. Wenn Bates gewusst hätte, dass wir Freunde sind, hätte er sofort die Finger davon gelassen.«

»Nicht der Rede wert. Im Grunde sollte ich ja dankbar sein, dass er mein Täubchen wieder eingefangen hat«, meinte der Onkel, nachdem er seine Pfeife angezündet hatte. »Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben.«

»Es war ein glücklicher Zufall.« Der große Mann strich sich mit Daumen und Zeigefinger über die lange Nase. »Selbst der Kapitän ist nur versehentlich auf die Göre gestoßen. Ihm war eines deiner Flugblätter in die Hände geraten, und er kannte die Geschichte vom Salamander, die man beinahe in jeder Hafenkneipe hören kann. Als dann seine alte Freundin Moll ebenso zufällig mit der Göre Bekanntschaft machte, haben die beiden gleich den Plan geschmiedet, zusätzlich zu deiner Belohnung noch ein Lösegeld zu verlangen.« Der Tabak in seiner Pfeife glühte rot, als er genussvoll daran zog. »Allerdings kann der Kapitän seine Klappe nicht halten, und als er vor mir prahlte, wusste ich gleich, dass es sich um Ralph Sinclairs Tochter handeln musste, und bin eingeschritten. Indes bleibt immer noch die Frage offen, wo nun der Salamander ist.«

»Ich denke, mein Täubchen weiß sicher, wo wir ihn finden können.« Er drehte sich zu Alyss, ein heimtückisches Blitzen in den Augen. »Was hast du mit dem Salamander gemacht? Wo ist er?«