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»Und wie sollen wir die Kinder befreien?« Beim Anblick des Schiffs hatte Maggie schlagartig allen Mut verloren. »Das schaffen wir nie. Wir sollten es lieber noch mal bei der Wache versuchen.«

Doch Will hatte nur den Kopf geschüttelt. »Auf keinen Fall. Die stecken doch mit drin und wir würden auch bei den Kindern landen.«

Da hatte Jack eine Idee. »Wir könnten das Schiff stürmen, wie Ritter ’ne Burg.«

»Zu fünft? Hast du ’nen Knall?« Sogar der mutige Kit hatte die Augen verdreht.

Doch Jack hatte es durchaus ernst gemeint.

»Wie viele sind in eurer Bande?«

»Das wechselt ständig«, hatte Kit geantwortet. »Aber so um die zehn bis fünfzehn Leute. Wieso?«

»Wir sind sechs, Eliza nicht mitgezählt«, hatte Jack überlegt. »Das macht schon fast zwanzig. Wenn wir die anderen Banden der Stadt ...«

»Du bist ’n Genie!«, hatte ihn Kit unterbrochen, während er anerkennend durch die Zähne pfiff. Er hatte sofort verstanden, worauf Jack hinauswollte. »Da ist die Bande von Cheapside und die Jungs und Mädchen von Spitalfields«, begann er die Londoner Kinderbanden aufzuzählen.

»Vergiss Robs Leute nicht«, war ihm Will ins Wort gefallen. »Wenn wir die alle zusammentrommeln, kommen wir leicht auf an die hundert.«

»Na, dann mal los«, hatte Jack die anderen aufgefordert. »Wir haben ’ne Menge zu tun. Und während ihr die Leute mobilisiert, besorg ich uns ’n paar Waffen.« Woher, hatte er nicht verraten.

Inzwischen war im Hafen gespenstische Stille eingekehrt. Das Wasser des Flusses, das tagsüber wie Quecksilber glitzerte, hatte sich in ein tiefes Schwarz verwandelt. Es schwappte gegen die Kaimauer. Nur ein verspätetes Ruderboot war noch unterwegs. Ein Seemann hatte sich wohl auf seinem Landurlaub einen Käfig voller Hühner gekauft. Als er ihn in sein Boot lud, begannen die Hühner laut zu gackern. Vermutlich sollte das Federvieh die Besatzung auf ihrer Seereise mit frischen Eiern versorgen.

Jack blickte auf den Fluss hinaus. Normalerweise konnte man von hier das andere Ufer sehen, doch der Nebel hatte die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite verschluckt. Selbst von den Segelschiffen, die sich im Hafen dicht aneinanderreihten, waren nur noch die Umrisse auszumachen.

Die schemenhaften Konturen der Magpie schwebten im Hafenbecken wie ein Geisterschiff. Tagsüber hatte man von der Mole aus gesehen, dass es sich um ein sehr altes Segelboot handelte. Sicher war es bereits zu Zeiten Königin Elisabeths auf den Weltmeeren unterwegs gewesen. Jetzt konnte man am Hauptmast den schwachen Lichtschein einer Laterne erkennen. Ein Wachposten ging an Deck auf und ab. Am frühen Abend waren viele der Matrosen an Land gezogen. Es war ihre letzte Gelegenheit, sich vor der langen Reise nach Amerika in einer der Hafenkneipen zu betrinken. Wenig später tauchte dann Master Smyth unerwartet am Pier auf. Er ließ sich zusammen mit einem dicken Mann von einem Matrosen auf die andere Seite rudern. Die Männer kletterten aufs Schiff, kamen jedoch schon nach kurzer Zeit wieder zurück an Land. Wer sich gegenwärtig außer dem Wachmann noch an Bord befand, war vom Ufer aus schwer zu sagen.

»Wir hätten Eliza bei Moll lassen sollen«, riss ihn Maggies Stimme aus seinen Gedanken. »Ist viel zu gefährlich für die Kleine.« Sie zwirbelte nervös eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger.

»Ich will aber dabei sein, wenn wir Ned und Tommy aus dem Schiff rausholen«, erwiderte die Kleine bestimmt. »Bin doch kein Wickelkind mehr.«

Jack musterte Eliza. Auch er wollte auf keinen Fall riskieren, dass ihr etwas passierte. Sie allein am Kai zurückzulassen, kam allerdings ebenso wenig infrage.

Bald kamen die ersten Kinder der anderen Banden an. Allein, zu zweit oder in kleineren Gruppen strömten immer mehr herbei, alle in zerschlissenen Hosen und Röcken, blass und mager, die meisten barfuß, manche in löchrigen Schuhen. Jack bekam eine Gänsehaut auf seinen Armen und musste lächeln. Dann begann er über das ganze Gesicht zu strahlen.

Unfassbar! Es war ihnen tatsächlich gelungen, fast alle Straßenkinder Londons zu mobilisieren. Alle wollten helfen, ihre eingefangenen Kameraden zu befreien. Erwartungsvoll standen die Straßenkinder nebeneinander in einer langen Reihe am Kai und warteten darauf, die Magpie zu stürmen. Man konnte sie leise miteinander flüstern hören. Jack blickte ungeduldig in die Dunkelheit. Wo blieben nur die Schausteller? Er hatte früher am Tag allen Mut aufgebracht, um Sassa und den Riesen um Hilfe zu bitten. Jetzt hoffte er aufs Innigste, dass sie ihr Versprechen hielten und vor allem, dass sie ihre Beile, Messer und den Bogen mitbringen würden. Plötzlich fühlte Jack, wie sich eine kleine Hand in die seine schob und aufgeregt an seinem Arm zog.

»Guck«, flüsterte Eliza. »Die Fee. Sie hat keine Flügel mehr. Du hast recht gehabt, sie hat sie abgeschnallt.« Vor lauter Aufregung drückte sie Jacks Hand immer fester.

Aus dem Nebel tauchten drei Gestalten auf, zuerst die winzige Frau, gefolgt vom Hünen und dem Wilden. Der Indianer hatte seine Kriegsbemalung noch nicht abgewaschen und trug immer noch seinen Federschmuck und den Lendenschurz. Doch wo hatte er seinen Köcher mit den Pfeilen und dem Bogen gelassen? Auch Hector und Aurelia schienen unbewaffnet zu sein.

»Wo sind die Waffen?«, fragte Jack. Die Kriegsbeile und Messer, die er im Zelt der Jahrmarktsleute gesehen hatte, waren der Hauptgrund gewesen, weswegen er die drei um Hilfe gebeten hatte. Wie sollten sie unbewaffnet das Schiff angreifen? Mit den erbärmlichen Messern, die viele von den Kindern zum Beutelschneiden benutzten, hatten sie nicht die geringste Chance.

Doch der Indianer war anderer Meinung. »Es geht auch ohne Waffen«, entgegnete er schlicht.

»Wi...wir be...befreien Alyss«, fiel ihm der Riese eifrig ins Wort.

»Psst, Hector«, wies ihn die falsche Fee zurecht. »Nicht so laut. Sonst weiß bald jeder, dass wir hier auf dem Kriegspfad sind.« Statt eines glitzernden Kleids trug sie heute einen praktischen Rock mit Mieder. Die Locken hatte sie mit einem Band am Hinterkopf zusammengebunden.

Die anderen Kinder beobachteten die drei Schausteller misstrauisch. Einige begannen aufgeregt zu flüstern und mit dem Finger auf die Neuankömmlinge zu deuten.

»Ich kann als Erster aufs Schiff«, schlug Sassa vor, nachdem Jack ihm die Situation genauer erklärt hatte. »Dann kann ich den Wachposten überwältigen.«

»Das ist ’ne gute Idee«, überlegte Kit, während er den Indianer argwöhnisch von der Seite aus musterte. »Der Wilde hat sicherlich Erfahrung mit nächtlichen Überfällen.«

»Wi...will mit«, verkündete Hector, während er sich demonstrativ mit beiden Fäusten auf die Brust klopfte. »Bi...bin stark.«

Doch sie entschlossen sich, dass Hector mit Aurelia an Land bleiben würde, um auf die jüngeren Kinder aufzupassen. Er war zu ungeschickt und würde nur unnötigen Lärm verursachen. Es war absolut notwendig, dass die Aktion so leise wie möglich ablief, da sie nicht wussten, wer außer dem Wachposten und den Gefangenen sonst noch an Bord war. Sassa würde als Erster aufs Schiff klettern und, sobald er die Wache außer Gefecht gesetzt hatte, den anderen durch den Ruf einer Eule mitteilen, dass die Luft rein war und sie ihm an Bord folgen sollten. Dort würden sie lautlos ausschwärmen, um unter Deck nach den gestohlenen Kindern zu suchen.

»Und wie sollen wir zum Schiff kommen?« Ein Junge trat aus dem Nebel. Jack blickte auf. Er kannte die Stimme nur zu gut. Es war Guy. »Sollen wir etwa schwimmen?«

Doch die Jungs hatten die Überfahrt bereits organisiert. Am Kai lagen mehrere angeseilte Ruderboote. Vermutlich gehörten sie Matrosen, die den Abend in den Hafenschenken verbrachten und später damit zurück zu ihren Schiffen rudern wollten. Die Kinder würden sich die Kähne ausleihen.