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»Wer kann rudern?«, fragte Sassa jetzt. Mehrere Hände schossen hoch.

»Gut«, erwiderte er und begann zusammen mit Kit den Ruderern Boote und Passagiere zuzuteilen.

Jack sollte im ersten Boot zusammen mit Will, Kit, Maggie, Sassa und Guy losfahren. Eliza hatten sie überreden können, bei Aurelia und Hector zu bleiben. Sobald die Kinder ins Boot gestiegen waren, übernahm Kit die Riemen und stieß von der Mole ab. Schweigend fuhren sie los. Man konnte nur das leise Platschen hören, jedes Mal, wenn die Paddel ins Wasser tauchten. Im Hafenbecken war die Strömung zwar nicht so stark wie auf dem Fluss, doch Jacks Herz schlug trotzdem bis zum Hals. Angsterfüllt blickte er auf das dunkle Wasser und hoffte, dass es sie nicht verschlucken würde. Sie steuerten zwischen Schiffen hindurch, deren steile Rümpfe so hoch wie Häuser waren. Manche ankerten derartig dicht nebeneinander, dass man von einem Schiff aufs andere hätte springen können. Wegen des immer dichter werdenden Nebels konnte man inzwischen nur noch wenige Meter weit sehen. Jack befürchtete, dass sie die Magpie nie finden und sich auf dem Fluss verirren würden, doch Kit ruderte unbeirrbar weiter, und schon wenig später hatten sie das Schiff tatsächlich erreicht.

»Und wie sollen wir in den Kahn gelangen?«, flüsterte Maggie. »Ich kann keine Leiter sehen.« Gewöhnlich stieg man über eine Strickleiter die Bordwand hoch ins Schiff. Doch die Matrosen hatten sie vermutlich eingezogen, damit niemand unberechtigt über die Reling klettern konnte.

»Kein Problem«, meinte der Indianer. Er deutete zum Schiff hoch, wo am Bugspriet eine übergroße geschnitzte Elster als Galionsfigur angebracht war. Er griff nach einem Seil, das zusammengerollt auf dem Boden des Ruderboots lag, und knotete es zu einer Lassoschlinge. Die anderen beobachteten stumm, wie der Indianer aufstand und seinen Arm mit der Seilschlinge mehrmals über seinem Kopf kreisen ließ. Dabei begann das Boot heftig zu schwanken und Jack bangte um sein Leben. Doch schon einen Augenblick später hatte Sassa die Schlinge um die Galionsfigur geschleudert und festgezogen. Dann nickte er den Kindern kurz zu, packte das Ende des Stricks und begann flink daran emporzuklettern. Oben angelangt, hangelte er sich am Klüverbaum hoch und war im nächsten Moment über die Reling verschwunden.

Danach schien alles ewig zu dauern. Inzwischen waren auch die anderen Ruderboote mit den Straßenkindern neben der Magpie angekommen. Alle warteten stumm auf den Ruf der Eule. Von den Booten aus, die sachte im Wasser schaukelten, war es unmöglich zu sagen, was oben an Deck vor sich ging. Außer den Fußtritten des Wachpostens, der auf und ab ging und gelegentlich stehen blieb, war kein Laut zu hören.

Doch kurz darauf schlug etwas dumpf auf den Planken auf. Danach war es wieder still. Auch die Schritte des Wachpostens waren nicht mehr zu vernehmen. Dann endlich tönte der Ruf einer Eule durch die Nacht und eine Jakobsleiter glitt lautlos die Außenwand der Magpie hinab.

Schweigend kletterten die Kinder an Bord. Eins nach dem anderen, wie eine Armee von Ameisen, die einen Topf voller Honig entdeckt hatten. Sobald sie auf dem Deck waren, schlichen sie auf die Niedergänge zu, um in den Bauch des Schiffs zu steigen. Sassa hatte den wachhabenden Seemann an einen der Masten gefesselt und seinen Mund mit einem Lappen zugestopft. Es stellte sich heraus, dass die restliche Mannschaft tatsächlich vollständig an Land gegangen war. Bis auf die knarrenden Planken, das leise Plätschern des Wassers und die fast lautlosen Fußstapfen hörte man nichts. Dann plötzlich brach unter Deck lautes Siegesgeschrei aus. Kit und Will hatten die ersten gefangenen Kinder entdeckt. Gleich darauf strömten Jungen und Mädchen aus dem Niedergang an Deck. Der Einsatz hätte nicht besser verlaufen können. Jack sah sich um. Er konnte es kaum erwarten, Ned endlich wiederzusehen. Doch gerade als er unter Deck gehen wollte, tauchte Alyss’ dunkler Lockenkopf hinter einem Mädchen mit langen Zöpfen im Niedergang auf. Sie strahlte übers ganze Gesicht.

»Ich hab gewusst, dass ihr kommen würdet!«, meinte sie, dann fiel sie erst Sassa, danach Jack um den Hals.

Der Junge war erleichtert, dass sie im schwachen Licht der Bordlampe nicht sehen konnte, wie sein Gesicht und die Ohren rot anliefen. Gleichzeitig fühlte sich der Salamander an seiner Brust wie glühendes Eisen an. Jetzt war die Gelegenheit gekommen, ihn Alyss zurückzugeben.

»Ich hab was für dich«, murmelte er verlegen, dann sah er sich vorsichtig um, doch niemand achtete auf die beiden. Die anderen waren alle dabei, die aufgespürten Kinder zu begrüßen. Schnell zog sich Jack die Kordel des Beutels über den Kopf und hängte ihn Alyss um den Hals. Sie tastete kurz danach, dann schob sie ihn unter ihr Hemd. Sie hatte gleich verstanden, um was es sich handelte.

»Danke«, flüsterte Alyss und hauchte Jack einen Kuss auf die Wange. Wie gut, dass die anderen sie immer noch nicht beachteten. »Wie hast du den nur aufgetrieben?«

Doch Jack kam nicht dazu, ihr mehr über den Salamander zu berichten, denn im nächsten Augenblick kam Will mit einem Jungen an der Hand auf ihn zu.

»Dein Bruder sagt immer noch kein Wort«, meinte er. »Vielleicht kannst du ihn zum Reden bringen.«

»Ned?«

Aber bei dem stummen Jungen handelte es sich nicht um Ned. Es war Tommy, der beim Anblick Jacks endlich seine Sprache wiederfand.

»Ich habe immer noch den Fingerhut«, erklärte er schüchtern. »Die Kinderdiebe haben ihn mir nicht gestohlen.«

Doch Jack hörte nicht, was er sagte.

»Ned!«, rief er. »Ned!« Aber so laut er auch schrie, sein Bruder blieb spurlos verschwunden. Er war nicht an Bord der Magpie. Jack sank auf die Knie und hämmerte mit den Fäusten auf die Planken.

Das Geheimnis des goldenen Salamanders

Sonntag, 15. September 1619

Als Alyss am nächsten Morgen im Zelt der Schausteller aufwachte, tastete sie gleich nach dem Beutel. Der Salamander hing immer noch um ihren Hals. Verschlafen blickte sie sich im Zelt nach den Schaustellern um, doch ihre drei Freunde waren nirgendwo zu sehen. Die Kisten und Truhen mit den Requisiten, Aurelias Flügel, die Raubkatze, die Messer im Korb und Sassas Bogen waren ihr inzwischen vertraut. Auch wenn Onkel Humphrey vermutlich immer noch im Weißen Hirschen logierte, fühlte sie sich hier vor ihm sicher. Selbst vor Master Tubney brauchte sie sich nicht mehr zu verstecken. Aurelia hatte noch mitten in der Nacht mit ihm gesprochen und die Situation erklärt. Er hatte großzügig erlaubt, dass Alyss einstweilen in seinem Zelt unterschlüpfen durfte. Wohlig streckte sie sich auf dem Stroh aus. Im schmalen Lichtstrahl, der durch die Klappe schien, tanzten winzige Staubpartikel. Nach den Tagen der Dunkelheit im Keller und im Segelschiff war es wunderbar, endlich wieder Tageslicht zu sehen. Bestimmt würde sich jetzt doch alles zum Besten wenden. Egal, was die Wahrsagerin in ihrer Hand gelesen hatte.

Wie es Jack heute Morgen wohl erging? Sie hatten sich nach dem Chaos der vergangenen Nacht gar nicht voneinander verabschiedet. Ob er seinen Bruder doch noch gefunden hatte? Ohne ihn und Sassa würden sie und die anderen Kinder jetzt bereits Richtung Neue Welt segeln. Klar, hätte der Junge sie nicht bestohlen, wäre ihr viel erspart geblieben. Aber dann hätte sie weder ihn noch Sassa, Hector und Aurelia kennengelernt, und Onkel Humphrey und sein Häscher hätten sie ohnehin irgendwann erwischt und den Kinderdieben ausgeliefert. Stattdessen hatte sie nun neue Freunde gewonnen, und das war alle Strapazen wert gewesen.

»Guten Morgen.« Aurelia kam durch die Klappe ins Zelt geschlüpft. »Hungrig?« Sie schleppte einen Laib Brot, der fast so groß wie sie selber war.

Alyss setzte sich auf. »Guten Morgen«, begrüßte sie die Fee. »Wo sind Sassa und Hector?«

»Die sind schon früh losgezogen, um herauszufinden, ob dieser Sir Christopher endlich von seiner Reise zurückgekehrt ist.« Sie legte das frische Brot auf ein Holzbrett und begann mit einem Messer dicke Scheiben abzusäbeln.