»Wie soll das möglich sein?«, unterbrach Alyss ihn.
Sir Christopher zuckte mit den Achseln. »Erst glaubte ich den fabelhaften Gerüchten selbst nicht, doch dann stieß ich auf ein altes spanisches Manuskript. Dort war die Rede von einem Schatz, nur statt einem braucht man zwei Salamander, um ihn zu finden. Die geheimnisvollen Zeichen auf den Unterseiten ergänzen sich und ergeben miteinander kombiniert einen Hinweis auf den Ort, wo dieser Schatz vergraben ist. Laut dem Manuskript braucht man obendrein eine Karte. Aber niemand hat sie je gesehen.«
»Ist das wirklich wahr?« Auch wenn alles unglaublich klang, erklärte es zumindest, wieso jeder das Schmuckstück besitzen wollte.
Sir Christopher nickte ernsthaft. »Ich weiß, es hört sich nach Flunkerei an, aber es handelt sich um eine durchaus verlässliche Quelle.« Er räusperte sich und schob seine Halskrause zurecht.
»Aber wenn es so viele Salamander gibt, woher will man denn wissen, welche die zwei richtigen sind?«
»Es gibt nur zwei mit den geheimnisvollen Schriftzeichen. Und deiner ist einer davon.«
Alyss sah sich die Symbole auf dem Bauch des goldenen Reptils genauer an. Vor Aufregung waren ihre Hände plötzlich ganz feucht. »Und wo ist der andere?«
»Wie die Karte seit vielen Jahren verschollen.«
»Ach«, seufzte Alyss enttäuscht. »Dann ist mein Salamander ja so gut wie nutzlos.«
»Nicht für dich.« Sir Christopher lächelte und wieder tauchten die Lachfältchen um seine Augen auf. »Er ist ein Andenken an deinen Vater. Das ist kostbarer als jeder Schatz. Und du musst gut auf ihn auspassen. Wer weiß, wann der andere Salamander wieder auftaucht und worum es sich bei dem Schatz handelt. In den falschen Händen können die schönsten Dinge sehr viel Schaden anrichten.«
Natürlich, das stimmte, aber bisher hatte der blöde Salamander Alyss nur in Schwierigkeiten gebracht. Sie stopfte ihn in den Beutel und zog die Kordel zu.
»Und was wird jetzt mit mir passieren?«, fragte sie.
»Das ist doch keine Frage. Natürlich bleibst du erst einmal hier, zumindest solange, bis wir die Angelegenheit mit Master Ratcliff erledigt haben. Wenn wir dann eure ehemaligen Angestellten aufgetrieben haben, kannst du zurück nach Hatton Hall.«
Alyss konnte es kaum fassen. Alles würde wieder wie früher werden. Nur ihr Vater blieb verschollen.
»In Ordnung. Dann geh ich jetzt«, verkündete Sassa, der bisher nur schweigend das Gespräch verfolgt hatte. »Ich muss wieder arbeiten.«
Bestürzt blickte Alyss zu dem Indianer hoch. Er durfte nicht einfach so aus ihrem Leben verschwinden, wie alle anderen, die sie je lieb gewonnen hatte. Sir Christopher schien ihre Gedanken zu lesen.
»Dein Freund ist jederzeit hier willkommen«, meinte er und blickte von Sassa zu Alyss. »Vielleicht kann er mir bei diesen Besuchen gleichzeitig von seiner Welt erzählen. Ich bin zu alt zum Reisen, würde jedoch gerne mehr von den Kulturen jenseits des großen Ozeans erfahren.«
Alyss strahlte übers ganze Gesicht. »Könnten wir dazu in Euren Garten gehen?«
»Natürlich«, erwiderte Sir Christopher. »Aber wozu?«
»Weil Sassa versprochen hat, mir zu zeigen, wie man mit Pfeil und Bogen umgeht«, erklärte sie und zwinkerte dem Indianer zu.
Den Nachmittag verbrachte Alyss dann zunächst in einer hölzernen Wanne in der Küche. Joan, die nette Haushälterin, hatte Wasser erhitzt und schrubbte das Mädchen mit einer Wurzelbürste von Kopf bis Fuß. Auf dem Markt hatte sie Alyss einen neuen Rock, eine Bluse und ein Mieder besorgt, in welche sie nach dem heißen Bad schlüpfte. Als Alyss später im Gang ihr Spiegelbild sah, kam sie sich fremd vor. Der Junge mit dem strubbeligen Lockenkopf hatte sich wieder in ein Mädchen mit einer Schleife im Haar verwandelt. Nach dem Bad leistete sie Joan in der Küche Gesellschaft. Erst zum Abendessen traf sie sich wieder mit Sir Christopher. Es gab köstliches Kaninchenragout – die erste warme Mahlzeit an einem richtigen Tisch seit Tagen. Danach brachte Joan Alyss auf ihr Zimmer. Es war ein hübsches Eckzimmer im ersten Stock mit zwei Fenstern. Auf der einen Seite konnte man den Fluss sehen, der im Mondlicht wie Quecksilber glitzerte. Das andere Fenster führte auf den Garten hinaus, wo ein Brunnen, mehrere Obstbäume und Gemüsebeete deutlich im Mondschein zu erkennen waren. Alyss gähnte. Das Himmelbett mit dem Baldachin sah einladend aus. Und gleich nachdem sie sich in die weiche, warme Decke gekuschelt hatte, war sie auch schon eingeschlafen.
Mitten in der Nacht lag sie dann plötzlich hellwach im Bett. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war. Eine leichte Brise wehte durch das offene Fenster und ließ die Rüschen um den Baldachin des Bettes sachte flattern. Das Fenster klapperte. Wieso stand es offen? Als sie ins Bett gegangen war, waren beide Fenster geschlossen gewesen. Doch vielleicht war es nur angelehnt gewesen und der Wind hatte es aufgeweht. Und was lehnte da draußen an der Wand? War das eine Leiter? Gerade erwog sie, ob sie aus dem warmen Bett steigen sollte, um das Fenster zu schließen, als sie einen dunklen Schatten an der Wand daneben bemerkte.
»Gib mir den Salamander!«, zischte eine Stimme. Erst als die Person näher trat, erkannte Alyss, dass es sich um Master Milton handelte. Seine Augen funkelten gespenstisch im Mondlicht. Der Mann war doch nicht abgereist, sondern gerade eben über die Leiter in ihr Zimmer gestiegen.
»Ich hab ihn nicht«, erwiderte Alyss. Hoffentlich hatte er nicht gesehen, wie sie zuvor Jacks Beutel unter das Kopfkissen gestopft hatte.
»Gib ihn mir, oder ...« Er kam nicht mehr dazu, seine Drohung auszusprechen.
Dann geschah alles so schnell, dass Alyss erst später erfasste, was sich genau zugetragen hatte. Etwas Glitzerndes sauste lautlos durch die Luft, und plötzlich schrie Master Milton laut auf. Ein Beil hatte den Ärmel seines Hemds an den Bettpfosten genagelt. Ein weiteres Beil flog durch die Luft und heftete seinen anderen Ärmel an die Wandtäfelung. Danach sah sie im Mondlicht, wie eine Gestalt durchs Fenster kletterte. Erst einen Moment später erkannte sie Sassa. In Lendenschurz und Kriegsbemalung war er hinter Francis Milton die Hausmauer hochgeklettert. Jetzt baute er sich drohend vor dem Mann auf und sah dabei genauso furchterregend aus wie auf der Bühne der Raritätenschau.
Master Milton, der keine Ahnung hatte, woher der wilde Mann so plötzlich aufgetaucht war, meinte, der Teufel sei hinter ihm her. Er flehte den Wilden an, ihm nichts anzutun. Durch den Lärm waren die anderen Hausbewohner aufgewacht. Sir Christopher, nur mit Schlafmütze und Hemd bekleidet, steckte verschlafen seinen Kopf durch die Tür. Hinter ihm tauchte das besorgte Gesicht von Joan auf, die sich ein Schultertuch übers bodenlange Nachthemd geschlungen hatte.
»Was geht hier vor sich?«, fragte Sir Christopher, dann sah er seinen Assistenten, der mit den Kriegsbeilen an Bett und Wand genagelt war. Erstaunt wanderte sein Blick von Francis Milton zu Sassa.
Alyss berichtete dem Herrn und seiner Haushälterin kurz, wie Milton plötzlich in ihrer Schlafkammer aufgetaucht war und sie bedroht hatte und wie gleich dahinter ihr Retter Sassa durchs Fenster gestiegen war. Sir Christopher schüttelte fassungslos den Kopf.
»Francis, habe ich Euch nicht gesagt, dass der Salamander nicht zu den zwei besonderen gehört?«
Doch Milton gab keine Antwort. Er zitterte am ganzen Leib, immer noch überzeugt, dass der Teufel aus der Hölle gekommen war, um ihn zu holen.
»Und woher habt Ihr gewusst, im richtigen Augenblick aufzutauchen?«, fragte Sir Christopher Sassa wenig später, nachdem sie Francis Milton in das Zimmer mit den Ratten gesperrt hatten. Sie hatten sich in der Küche versammelt, wo Joan eine Runde Milch mit Honig erhitzte.