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»Wissen Sie, ob Sir Christopher zu Hause ist?«, fragte er sie.

»Die sind heute in aller Herrgottsfrühe mit ’ner Kutsche losgefahren. Sie wollten das Mädchen nach Hause bringen. So schnell kommen die bestimmt nicht wieder.« Plötzlich schaute sie den Jungen misstrauisch an. »Warst du nicht letzte Woche schon mal hier? Und vor ein paar Tagen hast du auch hier herumgelungert. Verschwinde sofort oder ich hol die Wache!«

Verdammter Mist! Alyss war abgereist, und er hatte es versäumt, sie zuvor noch einmal zu sehen. Jack war wütend auf Guy. Wieso hatte er ihm nicht gleich ausgerichtet, dass Alyss ins Pfandhaus gekommen war und ihn sprechen wollte. Sicher dachte sie jetzt, dass sie ihm gleichgültig war. Langsam ging er die Straße zurück zur Brücke, als ihm plötzlich eine Idee kam. Guy hatte behauptet, dass der Indianer Alyss begleitet hatte. Das bedeutete, dass Sassa sicher wusste, wo er sie finden konnte. Zuversichtlich beschleunigte er seine Schritte.

Schon wenig später kam er wieder in der Vorstadt an. Auf der Straße, die sich von der Brücke nach Süden erstreckte, dort wo die letzten beiden Wochen Gaukler und Akrobaten ihre Tricks vorgeführt, Musiker zum Tanz aufgespielt und Imbissbuden Leckerbissen angeboten hatten, herrschte heute Chaos. Der Jahrmarkt war zu Ende und die meisten Schausteller waren in Aufbruchstimmung. Überall herrschte emsiges Treiben. Buden wurden in ihre Einzelteile zerlegt, Planen wurden aufgerollt, Zeltpfosten gebündelt. Pferdefuhrwerke und Karren blockierten den Weg.

»Vorsicht, Junge«, rief ihm ein Mann zu, der auf einem haushohen Tier mit langer Nase und riesigen Ohren hockte. Es gelang ihm gerade noch, aus dem Weg zu springen, bevor ihn die säulendicken Füße zu Mus zermalmten.

Erst vor ein paar Tagen war Jack zusammen mit Eliza in der Tierbude gewesen, um die Zuschauer zu bestehlen, und hatte dort erfahren, dass das riesige Tier aus dem Orient kam. Der Elefant hatte alle möglichen Tricks vorgeführt. Dort hatten sie auch den Löwen besichtigt, der jetzt schläfrig in einem vergitterten Pferdewagen lag, der hinter dem Elefanten die Straße nach Süden hinunterrumpelte. Die Tiere der Wandermenagerie würden von London zum nächsten Rummelplatz weiterziehen. Nachdem der Elefant vorübergetrampelt war, hielt Jack nach der Bude der drei Schausteller Ausschau. Aber nur ein Stück die Straße entlang, dort wo Tubneys Raritätenschau noch gestern gestanden hatte, war bloß eine leere Fläche zu sehen. Etwas Stroh und ein zerbrochener Krug waren alles, was übrig geblieben war. Die Schaubude mit dem Zeltanbau hatte sich scheinbar in Luft aufgelöst.

»Habt Ihr ’ne Ahnung, wohin Tubneys Leute gezogen sind?«, fragte er einen Mann, der gegenüber Bänke und Tische auf einen Karren lud.

»Weiß nicht, vermutlich zum nächsten Jahrmarkt«, erwiderte er, ohne mit der Arbeit innezuhalten. »Wir selber sind ja von hier und bauen nur zur Jahrmarktszeit ’nen Stand für die Spanferkel auf.«

Auch die anderen Schausteller hatten nicht die geringste Ahnung. Jack war zu spät gekommen. Sassa und seine Freunde waren abgereist. Jetzt würde er nie erfahren, was Alyss ihm sagen wollte.

Mehrere Tage später, nachdem sich die Kinder aus Molls Bande bis auf Guy der Hafenbande angeschlossen hatten, brach Jack gleich nach dem Frühstück alleine auf. Er wollte sich die zahlreichen Gefängnisse der Stadt vornehmen, um herauszufinden, ob Ned vielleicht doch dort gelandet war. Gerade überlegte er, mit welchem er beginnen sollte, als hinter ihm eine Stimme erklang.

»He Jack, warte.« Es war Will, der aus der verfallenen Lagerhalle, in der sie jetzt mit der Hafenbande hausten, auf die Gasse getreten war. »Maggie hat mir gerade erzählt, dass du immer noch nach deinem Bruder suchst.«

Jack nickte. »Wieso?«

»Weil Toby vielleicht wichtige Informationen für dich hat.« Er deutete auf den schlaksigen Jungen neben sich, der selbst Will um Haupteslänge überragte. »Toby war mit den anderen auf der Magpie.«

»Mein Bruder war nicht auf der Magpie«, erwiderte Jack.

»Ich weiß« erwiderte Will. »Aber Toby hat da so ’ne Vermutung.«

»Seit wann ist er denn schon weg?«, fragte der Lange jetzt, während er lässig auf einem Strohhalm herumkaute.

»Seit fast sieben Wochen jetzt. Wieso?«

Der Junge begann, seine Finger abzuzählen. »Das haut genau hin. Vor fast zwei Monaten fuhr schon mal ’n Schiff mit ’ner Ladung Kinder in die Neue Welt.«

»Woher weißt du das?«, fragte Jack skeptisch. Es gab keinen Grund, wieso er dem Jungen glauben sollte.

»Weil ich selber auf dem Kahn war. Hab gerade noch rechtzeitig die Kurve gekratzt und bin in den Fluss gesprungen. ’n Fährmann hat mich rausgefischt.«

»Bist du gleich zur Wache?«

»Zur Wache«, lachte der Junge. »Machst du Witze? Die stecken doch selber mittendrin. Es war ’n Wachmann, der mich statt ins Heim aufs Schiff gebracht hat. Und jetzt frag mich ja nicht, wieso ich noch mal auf ’nem Kahn gelandet bin.« Er grinste verlegen. »Pures Pech. Ich hatte ja keine Ahnung, dass die jedes Mal ’ne andere Tour draufhaben. Das zweite Mal haben sie mich wie Will mit ’ner falschen Botschaft in die Falle gelockt.«

»Und wieso soll mein Bruder auf dem gleichen Schiff gewesen sein?«

»Du suchst nach ’nem kleinen Jungen mit roten Haaren, oder?«

Jack nickte.

»Na, da war so ’n Kleiner mit feuerroten Zotten. War so ’n ganz ’n Stiller. Er hieß Ned.« Er spuckte den Strohhalm aus. »Tut mir echt leid. Dem ist nicht mehr zu helfen. Der ist längst in Virginia.«

Will klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.

»Die Arbeit ruft.« Dann zogen die beiden Jungen los.

Jack dagegen blieb wie versteinert stehen. Er war nicht fähig, an irgendetwas anderes zu denken. Wie ein Kreisel wirbelte nur ein einziger Gedanke in seinem Kopf herum: Man hatte seinen Bruder nach Virginia verschleppt, Virginia, Virginia ... Es war hoffnungslos! Dann begann er ziellos durch die Straßen und Gassen der Stadt zu irren, kreuz und quer, bis er irgendwann plötzlich vor Molls Pfandhaus stand. Wieso er gerade hierher gekommen war, wusste er nicht.

Der Laden und das Haus sahen verlassen aus. Jemand hatte die drei Kugeln über der Ladentür abgehängt und die Fenster mit Latten vernagelt. Seltsam. War da jemand im Haus, oder hatten sie nur vergessen, die Tür zu verriegeln? Zwischen Tür und Türstock war ein kaum sichtbarer Spalt, und als Jack dagegendrückte, schwang sie quietschend auf.

»Hallo? Ist da jemand?« Doch er bekam keine Antwort. Er trat vorsichtig ein.

Der Laden war bis auf die Spiegel leer geräumt. Molls Diebesgut, das sie dort verkauft, und die andere Ware, die sie als Pfand für Geld entgegengenommen hatte, waren verschwunden. Die Wache hatte jedes einzelne Stück beschlagnahmt. Vermutlich würde später jemand nachkommen, um auch die Spiegel abzuholen. Das Echo seiner Schritte hallte befremdlich im Raum. Plötzlich ließ ihn ein Geräusch aus dem oberen Stockwerk aufschrecken. War doch noch jemand im Haus? Da huschte ein Schatten blitzschnell die Stiegen hinab, etwas landete mit einem Satz auf seinem Kopf und zerrte an seinen Haaren.

»Orlando!«, rief er. »Hab mich schon gewundert, was mit dir passiert ist.« Er griff nach dem Affen und setzte ihn sich auf die Schulter. Das Tier schnatterte freudig, als ob es ihm erzählen wollte, was geschehen war. Danach begann es, an Jacks Ohr zu knabbern, wie es das bei Moll immer getan hatte.

Jack stieg mit dem Affen auf der Schulter zum Dachboden hoch. Die Strohsäcke lagen immer noch auf dem Boden ausgebreitet. Als die Kinder das Haus verlassen hatten, hatte es keinen Grund gegeben, sie wie sonst ordentlich in die Ecke zu stapeln. Doch bis auf die Matratzen und James, der immer noch vom Dachbalken baumelte, war der Raum wie das restliche Haus leer. Keine Jacken, Schuhe, Decken, Essensreste und Kerzenstummel lagen auf dem Boden herum. Kein Tommy tollte sich mit Eliza.