Выбрать главу

Alles war schiefgelaufen. Diese verdammten Schurken hatten seinen Bruder in die Neue Welt entführt, die verfluchte Moll würde die nächsten Monate im Knast verbringen, wenn sie nicht sogar am Galgen endete, und Alyss war aus der Stadt abgereist. Plötzlich überkam Jack eine unsagbare Wut. Er boxte James, der den Angriff wortlos ertrug und zur Antwort nur heftig hin- und herschaukelte und mit seinen Glöckchen klingelte. Aufgebracht hieb Jack weiter auf ihn ein, dann sprang er die Stiegen hinab. Als er bei den Spiegeln ankam und ihn unzählige zornige Jacks anstarrten, trat er heftig dagegen. Mit lautem Klirren zerbarst der erste Spiegel in Tausende von Splittern. Orlando floh hastig die Stiegen hoch. Auf der obersten Stufe begann er aufgeregt zu schnattern und sich seine winzigen Hände erst vor die Augen, danach vor die Ohren zu halten. Es klirrte und krachte, als Jack auf den nächsten Spiegel eintrat. Noch einer und noch einer zersprang in glitzernde Splitter. Erst als der letzte Spiegel zerborsten war, gab er auf. Er zitterte am ganzen Körper, und zum ersten Mal, seit sein Bruder verschwunden war, kullerten ihm Tränen die Wangen herab, doch gleichzeitig fühlte er sich besser. Auf einmal war er mit neuem Mut erfüllt.

»Ich könnte auf einem Schiff als Schiffsjunge anheuern«, überlegte er laut. Das hatte sein Vater vor langer Zeit auch gemacht. Genau, das war’s! Er würde in die Neue Welt segeln und dort seinen Bruder aufstöbern, selbst wenn er sich vor Wasser fürchtete und Segelboote nicht ausstehen konnte. Da fühlte er, wie ihn winzige Hände sacht am Ohr zogen. Orlando war wieder auf seine Schulter geklettert und knabberte liebevoll an seinem Ohrläppchen.

»Hast du Lust, auf Reisen zu gehen?«, fragte er Orlando, aber der gab keine Antwort, sondern bearbeitete weiterhin Jacks Ohr.

Voller Tatendrang verließ Jack das Pfandhaus. Nur dass er das Mädchen mit den dunklen Locken verpasst hatte, versetzte ihm immer noch einen Stich.

Schiff ahoi

Ende September 1619

Obwohl Alyss nach dem ereignisreichen Tag und der noch abenteuerlicheren Nacht am liebsten zu Jack gelaufen wäre, um ihm zu berichten, dass der Freund ihres Vaters tatsächlich kein Zauberer, sondern ein liebenswerter alter Mann war, hatte sie sich gedulden müssen. Sir Christopher wollte erst sichergehen, dass Master Milton keinen Schaden mehr anrichten konnte. Nachdem Joan im Zimmer des Assistenten gestohlene Wertsachen gefunden hatte, wurde beschlossen, ihn der Wache auszuliefern. Da Milton jedoch immer noch überzeugt war, dass der Teufel hinter ihm her war, brachte ihn die Wache zu den Irren nach Bedlam. Wenigstens brauchte Alyss sich nicht mehr vor ihm zu fürchten. Auch Onkel Humphrey und die anderen Verfolger stellten keine Gefahr mehr dar, denn für sie galt der Salamander als verloren. Keiner wusste, dass Jack ihn Alyss wiedergegeben hatte. Erst am folgenden Tag erlaubte Sir Christopher ihr dann, zusammen mit dem Indianer Molls Pfandhaus aufzusuchen. Doch Jack war bereits in der Stadt unterwegs gewesen. Nur ein Junge mit Stoppelhaaren hockte mit baumelnden Beinen auf dem Ladentisch und mischte einen Stapel Karten. Zwar versprach er, Jack auszurichten, dass Alyss für eine Weile im Haus an der Themse wohnen würde und er sie dort jederzeit besuchen könnte, doch Jack tauchte nie dort auf.

Der Indianer dagegen schaute regelmäßig jeden Morgen vor der Vorstellung vorbei. Er brachte Pfeil und Bogen mit, und wenn es nicht gerade regnete, verbrachten sie die Zeit im Garten. Meist gesellte sich Sir Christopher zu ihnen. Während Sassa Alyss zeigte, wie man den Bogen spannte, einen Pfeil anlegte und ein Ziel anpeilte, stellte ihm der alte Herr unersättlich Fragen, die der Indianer nur allzu gerne beantwortete.

Ob die Powhatans Städte hatten, wie ihre Behausungen aussahen, wie sie sich ernährten, an was sie glaubten, welche Geschichten sie ihren Kindern erzählten und wie sie Verbrecher bestraften. Sir Christopher und das Mädchen erfuhren, dass es in der Neuen Welt, vor der Ankunft der Fremden, keine Pferde gegeben hatte, auch keine Karren und Kutschen. Stattdessen reiste man zu Fuß oder in Kanus aus Baumstämmen, mit denen man auf den Flüssen und Seen schnell vorwärtskam. Sassa berichtete, wie er in den Wäldern Hirsche jagte und in den Gewässern Hechte fing. Besonders fasziniert war Alyss von den goldenen Körnern, die, wenn man sie über dem Feuer röstete, explodierten und sich in köstlich schmeckende, federleichte Bällchen verwandelten. Sir Christopher machte sich ständig Notizen und fragte Sassa immer wieder, wie bestimmte Worte in seiner Sprache lauteten. Auch Joan gesellte sich hin und wieder dazu und lauschte den Berichten. Oft brachte sie ein Tablett voll frisch gebackenem Gewürzkuchen, Wein für die Männer und einen Becher Milch für das Mädchen mit.

Wie in jener Nacht im Jahrmarktszelt, als Sassa Alyss erstmals von seiner Heimat berichtet hatte, fiel ihr auch jetzt auf, wie sich seine Augen immer wieder mit Sehnsucht füllten, wenn er von Virginia sprach. Sassa vermisste seine Familie, genauso wie sie ihren Vater. Mit der Zeit begann sie einen Plan zu schmieden. Sie würde den Salamander verkaufen, um für Sassa eine Überfahrt nach Virginia zu finanzieren. Sosehr sie den neuen Freund auch vermissen würde, wusste sie, dass er sich dort viel wohler fühlen würde als in England.

Auch Donnerstagmorgen verbrachten sie im Garten. Es war ein strahlender Herbsttag. Die Blätter der Obstbäume hatten bereits angefangen, sich zu verfärben, doch noch fühlte sich die Sonne warm genug an, um ohne Mantel im Freien zu sein. Sir Christopher saß in seinem Lehnstuhl, den Joan in den Garten getragen hatte, Sassa hockte im Schneidersitz neben ihm auf dem Boden. Inzwischen hatte Alyss gute Fortschritte mit Pfeil und Bogen gemacht. Ihr war es sogar schon mehrmals gelungen, die Mitte der Zielscheibe, die sie am Apfelbaum befestigt hatten, zu treffen. Gerade legte sie wieder einen Pfeil an, streckte den Bogenarm, wie Sassa es ihr gezeigt hatte, und begann die Sehne zu spannen.

»Würdet Ihr es in Betracht ziehen, Eure Arbeit bei den Schaustellern aufzugeben und für mich zu arbeiten?«, hörte sie Sir Christopher in genau diesem Moment Sassa fragen.

Der Pfeil schwirrte durch die Luft, doch dieses Mal verpasste er das Ziel und landete auf dem Boden neben der seitlichen Pforte. Hatte sie richtig gehört?

»Ich habe meinem guten Freund Ralph Sinclair einst versprochen, mich um seine Tochter zu kümmern«, fuhr er fort. »Allerdings bin ich ein alter Mann. Ich brauche jemanden, dem ich trauen kann, um auf das Mädchen aufzupassen. Es wäre sicher ganz im Sinne von Ralph, einen Mann aus Virginia einzustellen, und ich würde Euch gut entlohnen.«

Alyss blickte fassungslos von Sir Christopher zu Sassa. Wollte er tatsächlich den Indianer als ihren persönlichen Schutz anheuern? Und wie würde Sassa antworten. Sie hielt gespannt den Atem an.

»Ich nehme Euer Angebot gerne an«, kam Sassas Antwort.

»Und was ist mit Master Tubney?« Alyss traute ihren Ohren immer noch nicht.

»Der muss sich einen neuen Menschenfresser suchen.«

Alyss flog zuerst Sir Christopher, danach Sassa um den Hals. Der alte Mann lächelte. Doch dann wurde er ernst.

»In Zukunft wird das Mädchen allerdings nicht den ganzen Tag mit Jungenspielen verbringen können.« Mit einer leichten Kopfbewegung deutete er auf den Bogen. »Ich werde mich nach einer Gouvernante für sie umsehen, damit ihr jemand beibringen kann, wie man sich als Dame benimmt.«

Weitere Pläne wurden besprochen. Schon in zwei Tagen würden sie nach Hatton Hall aufbrechen. Sir Christophers Anwalt hatte es tatsächlich in der kurzen Zeit geschafft, Onkel Humphrey und seine Familie aus dem Haus zu verjagen und das alte Personal wieder einzustellen. Alyss konnte es kaum fassen – sie würde nach Hause zurückkehren und Beth, Thomas und ihre geliebten Bücher wiedersehen. Alles würde fast wie früher sein. Da fiel ihr Jack ein. Automatisch griff sie nach dem Salamander, der jetzt an einem Samtband um ihren Hals hing. Sir Christopher hatte am Schwanz eine kleine Öse anbringen lassen, damit sie ihn als Anhänger benutzen konnte.