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»Könnten wir es morgen früh noch einmal bei Jack versuchen?«, fragte sie. Obwohl der Junge sie nicht besucht hatte, wollte sie ihm doch berichten, dass sich alles zum Guten gewendet hatte.

Doch als sie dann am nächsten Morgen mit Sassa zum Pfandhaus ging, kam ihr schon wieder der Junge mit der kurzen Stoppelfrisur entgegen. Jack war nicht zu Hause. Alyss konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Hatten sich ihre Wege tatsächlich nur flüchtig gekreuzt und würden sie ab jetzt wieder entgegengesetzte Richtungen einschlagen? Schade! Sie hätte den Jungen so gerne wenigstens noch einmal kurz gesehen. Doch das Schicksal schien es anders zu wollen.

Wenige Tage später betrat Alyss die Bibliothek in Hatton Hall. Es roch immer noch nach Leder und Druckfarbe. Zufrieden sah sie sich im Raum um. Vaters Landkarten, die die Jungen damals über den Boden verstreut hatten, steckten wieder ordentlich aufgerollt in ihrer Truhe. Beth hatte Staub gewischt und den Boden blitzblank geputzt. War es tatsächlich erst drei Wochen her, dass sie im Priesterloch hinter dem Bücherregal gekauert und zuerst George und seine Brüder, danach Onkel Humphrey und seinen Häscher belauscht hatte? Drei Wochen, in denen sie von einem Abenteuer ins nächste gepurzelt war ... Inzwischen wusste sie, dass der geheimnisvolle Häscher ein Londoner Tabakhändler war. Er hatte in der Stadt Kinder eingefangen, um sie in der Neuen Welt gegen Tabak einzutauschen. Sir Christopher hatte zwar alles darangesetzt, den Mann zu verhaften, doch er leugnete die Anschuldigungen. Sie hatten keine Beweise, und Straßenkinder galten nicht als Zeugen. Deswegen lief er immer noch auf freiem Fuß herum. Alyss brauchte den Häscher jedoch nicht mehr zu fürchten. Hier in Hatton Hall fühlte sie sich endlich wieder sicher und außerdem würde Sassa auf sie achtgeben. Auch Sir Christopher und Joan würden nicht sofort nach London zurückkehren. Sie würden erst abreisen, sobald die neue Gouvernante eingetroffen war.

Alyss blickte auf die Bücherregale, die jede freie Stelle der Wände von Vaters Bibliothek bedeckten, dann ging sie zielstrebig auf das Regal neben dem Kamin zu. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und reichte zum fünften Regalbrett hoch. Allerdings tastete sie dieses Mal nicht nach dem Hebel, der die Geheimtür öffnete. Sie hatte nicht die Absicht, sich wieder im Priesterloch zu verstecken, sondern griff nur nach einem Buch, von dem sie wusste, dass es dort stand. Es war eines von Vaters Lieblingsbüchern gewesen, und auch sie hatte sich die Illustrationen früher oft angesehen.

»Ein kurzer und wahrer Bericht über das neu entdeckte Land von Virginia von Thomas Harriot«, las sie laut vor, obwohl sie allein in der Bibliothek war. Sir Christopher und Sassa unterhielten sich in Vaters Arbeitszimmer, und Joan half Beth in der Küche, das Abendessen zuzubereiten. Sie blätterte durch die Seiten, und schon hatte sie gefunden, was sie suchte. Auf dem Blatt waren zwei Männer abgebildet. Sie waren mit Pfeil und Bogen bewaffnet, trugen Lendenschurze und Federn im Haar. Es handelte sich um Powhatan-Indianer. Auch auf den anderen Abbildungen konnte man Indianer sehen. Da war eine Frau mit einem kleinen Mädchen, das eine Puppe in der Hand hielt; Männer, die Fische über einem Feuer räucherten; ein Dorf mit einem Palisadenzaun; fruchtbare Felder ... Sie musste Sassa das Buch unbedingt zeigen.

Ein Geräusch ließ sie auffahren. Das Fenster klirrte leise, doch es war nur der Herbstwind, der dagegenblies. Es hatte zu regnen angefangen, genau wie in jener Nacht vor drei Wochen, als sie überstürzt aus Hatton Hall geflohen war. Wieder erklang ein Geräusch. Dieses Mal kam es von der Eingangshalle. Jemand hatte an die Tür geklopft. Kurz darauf drangen aufgeregte Stimmen nach oben. Joan kam in die Bibliothek gestürmt.

»Alyss!«, rief sie aufgeregt. »Komm schnell nach unten. Da ist ein Bote mit einem Brief von deinem Vater.«

Ralph Sinclair war am Leben. Er war immer noch zu schwach, die Schiffsreise nach Europa auf sich zu nehmen, doch das Meer hatte ihn nicht verschluckt. In seinem Brief schrieb er, dass er an Land geschwemmt worden war, nachdem sein Boot Schiffbruch erlitten hatte. Für eine Weile hatte er sein Gedächtnis verloren, doch die Erinnerungen waren nach und nach zurückgekehrt. Jetzt wollte er, dass seine Tochter zu ihm nach Amerika segelte. Sein alter Freund Kapitän Hobart, der den Brief des Vaters nach England gebracht hatte, würde schon in wenigen Tagen wieder lossegeln und Alyss sollte mit ihm mitfahren. Sassa, hatte Sir Christopher entschieden, würde sie begleiten. Die Gouvernante, die am nächsten Tag in Hatton Hall ankommen sollte, würde wieder nach Hause geschickt werden, und Alyss und Sassa fuhren mit Sir Christopher und Joan zurück nach London. Beth und Thomas würden sich während ihrer Abwesenheit um das Herrenhaus kümmern. Alles geschah so schnell, dass Alyss meinte zu träumen.

Am Tag vor ihrer Abreise wollte sie es dann noch ein letztes Mal bei Jack versuchen. Doch heute war der Laden geschlossen, die Fenster und Türen mit Brettern vernagelt. Alles sah verlassen aus. Selbst die drei eisernen Kugeln über der Ladentür waren verschwunden.

»Alyss? Bist du das?« Rose mit den langen Zöpfen war aus dem Laden nebenan getreten. Sie hatte Alyss und Sassa vor dem Pfandhaus entdeckt. Die beiden Mädchen umarmten sich. Hinter Rose war ein kleiner Junge aufgetaucht, der unsicher auf seinen Beinen wackelte.

»Das ist Bobby«, stellte sie ihren kleinen Bruder vor. »Er hat vor zwei Tagen laufen gelernt.«

»Dann hast du es doch nicht versäumt«, lächelte Alyss. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie das Mädchen ihr im dunklen Schiffsbauch von seinem kleinen Bruder erzählt hatte.

»Anne!«, rief Rose jetzt. »Guck mal, wer hier ist.«

Einen Augenblick später tauchte die schüchterne Anne in der Ladentür auf.

»Alyss«, rief auch sie erstaunt. »Was machst du denn hier?«

»Das Gleiche könnte ich dich fragen«, erwiderte Alyss, nachdem sie auch Anne umarmt hatte.

»Roses Eltern haben mich aufgenommen«, erklärte sie mit strahlendem Gesicht. »Ich mache das Haus für sie sauber und helfe in der Werkstatt.«

»Und wie geht’s dir?«, wollte Rose wissen. »Hast du deinen Onkel aus eurem Haus vertreiben können?«

Doch Alyss hatte für lange Schilderungen keine Zeit. »Ich muss unbedingt mit Jack sprechen«, erklärte sie.

»Jack? Der wohnt hier nicht mehr.«

»Was ist passiert?« Sie schaute die beiden Mädchen erschrocken an.

Rose warf Anne einen Blick zu. »Moll wurde verhaftet«, erklärte sie. »Sie haben das ganze Haus ausgeräumt. Die Mädchen und die Jungs haben sich fast alle ’ner Bande im Hafen angeschlossen.«

Alyss war enttäuscht. Wieso hatte Jack ihr nicht gesagt, dass er umgezogen war? Von Billingsgate war es doch nur ein kurzes Stück zum Haus an der Themse.

»Dann weißt du sicher auch noch nicht, was Jack vorhat.« Rose verfolgte Bobby liebevoll mit den Augen. »Stell dir vor, er hat ’ne heiße Spur zu seinem Bruder. Der Junge ist schon vor mehreren Wochen mit ’ner Ladung geklauter Kinder in die Neue Welt verschleppt worden.«

Alyss starrte Rose mit offenem Mund an. »Wirklich?«

Rose nickte. »Und jetzt will Jack unbedingt hinterher. Er wollte auf ’nem Schiff als Schiffsjunge anheuern. Das ist schon ’n paar Tage her, dass Maggie mir das erzählt hat. Keine Ahnung, ob er noch in London ist.« Bobby stolperte, begann zu schwanken und landete schließlich auf seinem Hinterteil.

»Ich werde morgen früh auch in die Neue Welt segeln«, verkündete Alyss, als sie ihre Worte wiedergefunden hatte.

»Was?« Jetzt staunten Rose und Anne. Bobby begann zu weinen, und die ältere Schwester hob ihn hoch und wiegte ihn auf den Armen hin und her.

»Aber was willst du denn in der Neuen Welt? Dort verwenden sie Kinder nur als Sklaven. Das weißt du doch.«