Mit geschwungenen Äxten rannten Alfred und Tim zum Unglücksort. Doch da hing der Helikopter bereits wieder in der Luft. Sie waren zu spät gekommen.
Als der Flugapparat überm Wald entschwunden war, standen Tim und Fred noch immer wie betäubt und starrten dem schwarzen Punkt nach. Nachdem sie sich von ihrem Schreck einwenig erholt hatten, machten sie sich hastig auf in die Stadt.
Zu Tode erschrocken, bemerkte Ann gar nicht, wie sie in die Kabine des Helikopters gelangte, wie die Tür fest verschlossen wurde und die Maschine in die Lüfte aufstieg.
Sie flog über die Wälder und Felder des Zauberlandes. Noch ein Weilchen sah man die funkelnden Türme der Smaragdenstadt, dann verschwanden auch sie. Kleine Farmen und Gärten, in denen die Menschen werkten, glitten unter ihnen dahin. Neugierig verfolgten sie mit den Blicken den fliegenden Apparat und ahnten nicht, daß er den Gast aus der Großen Welt entführte, der ihnen helfen wollte und nun selbst in Not geraten war.
Es wäre sinnlos und auch nicht ungefährlich gewesen, laut zu schreien oder gar um Hilfe zu rufen. Unwillkürlich hätte Ann dabei den Namen ihrer Freunde preisgeben können. Das erkannte sie sofort.
Der Flieger drehte sich um, betrachtete Ann aufmerksam und sagte etwas. Seine Stimme klang nicht böse. Vielleicht wollte der Menvite sie beruhigen. Jedenfalls war der Blick aus seinen schlitzförmigen, leicht zusammengekniffenen Augen nicht unfreundlich. Ann bedauerte, daß sie den Silberreif nicht bei sich hatte. Was für einen Dienst hätte ihr jetzt das Geschenk von König Nasefein XVI. erweisen können! Das Wunder hätte sich vollzogen, wenn sie aus dem Helikopter gelassen oder irgendwohin geführt worden wäre. Sie hätte sich schnell losgerissen und wäre im nächsten Augenblick unsichtbar gewesen. Dann hätten ihre Entführer sie lange suchen können! Da träume ich vor mich hin, als lebte ich im Märchen, dachte Ann betroffen. Was nicht ist, ist halt nicht. Sie senkte den Kopf und spürte miteins, wie etwas Kaltes, Metallenes ihre Hand berührte. Ann sprang wie elektrisiert auf. Wie hatte sie das nur vergessen können! Das war doch Raminas silbernes Pfeiflein. Da war er, der Schlüssel zu ihrer Rettung!
Verstohlen betrachtete Ann den breiten Rücken des Fliegers, ob er ihre Bewegung bemerkt, ob er ihre Pfeife beachtet hatte? Der Flieger wandte sich unter ihrem Blick um und nickte ihr ermutigend zu. Nein, er war beschäftigt, er achtete auf die Geräte am Armaturenbrett.
Der Fluchtplan war also fertig. Sobald sie allein bleiben würde, würde sie die Königin Ramina rufen: Die königliche Freundin würde ihr sicher aus der Not helfen. Sie besaß die Gabe, sich unversehens von einem Ort an einen anderen zu zaubern. Wenn sie erfahren würde, was Ann zugestoßen war, würde Ramina es unverzüglich in der Smaragdenstadt melden.
Der Helikopter landete in Ranavir. Der Pilot, es war Kau-Ruck persönlich, befahl Ann mit herrischer Geste, ihm zu folgen. Das kleine Mädchen ging gehorsam hinter dem Menviten her.
Die neue Gefangene im Lager der Außerirdischen fiel nicht auf. Gleichgültig gingen die Menviten an ihr vorüber. Auch die Arsaken blickten nicht von ihrer Arbeit auf. Nur als sie an einem von ihnen vorbeigingen, vernahm sie plötzlich drei Worte, die sie verstand „Sei ... ganz... ruhig... " Das ist Ilsor, dachte die Gefangene. Nun ging Ann mutiger weiter. Es konnte nicht allzu schlecht um sie stehen, wenn sich unter den Fremdlingen ein Freund fand.
Der Pilot hatte die Gefangene auf Baan-Nus Befehl entführt. Die Ereignisse der letzten Tage, besonders die Streiche der Vögel und der Fledermäuse an der Signalanlage, erschienen dem General äußerst verdächtig. Ob wirklich alles in diesem Land so aussieht, wie Mentacho behauptet? dachte er. Baan-Nu beschloß kurzerhand die Aussagen des Webers zu überprüfen. Da es sich um eine besonders wichtige Aufgabe handelte, übertrug er sie Kau-Ruck. Er befahl ihm, einen Erdenbewohner nicht aus der nahegelegenen Siedlung der Erzgräber, sondern aus der Umgebung der Smaragdenstadt herbeizuschaffen. Das ist sicherer, fand Baan-Nu.
Ann folgte Kau-Ruck, bemüht, so ruhig wie möglich zu erscheinen. Baan-Nu trat in seiner ordensbestickten Uniform aus dem Schloß, und Ilsor schickte sich an, ihm zu folgen. Ann konnte den Blick von der Paradeuniform nicht wenden.
Wahrscheinlich ist das ein sehr reicher Mann. Irgendein vornehmer Höfling, dachte sie. Solche schönen Gewänder habe ich nur auf Bildern gesehen.
Der General blickte finster drein, er wurde auch nicht freundlicher, als er das liebliche Antlitz des kleinen Mädchens sah.
Die Unterhaltung, die eher einem Verhör glich, fand im Blauen Haus der Gefangenen statt. Zunächst mußten Mentacho und Elvina den Raum verlassen. Elvina nahm wie stets, wenn sie spazierenging, einen Korb für Pilze mit.
Unvermittelt trafen sie in der Tür mit dem Gast aus der Großen Welt zusammen. Statt sich zu freuen, wurden die beiden alten Leutchen jedoch todtraurig, denn sie ahnten, daß das kleine Mädchen genau wie sie eine Gefangene der Menviten war. Mentacho zeigte rasch auf sich, schüttelte den Kopf und legte den Zeigefinger an die Lippen. Dann wies er auf Elvina und legte ebenfalls den Finger auf den Mund. Ann überlegte:
Wahrscheinlich will er sagen, daß wir nicht miteinander bekannt sind. Zumindest, daß ich über ihn schweigen soll. So war es auch.
Als erstes fragte Baan-Nu die Gefangene „Bist du mit den Leuten bekannt, die eben diesen Raum verlassen haben?"
Der Apparat in der Zimmerecke, der an einen kleinen Konzertflügel erinnerte, blinzelte plötzlich zu Anns größter Verwunderung, zischte und begann Baan-Nus Fragen und Anns Antworten zu übersetzen.
Ann antwortete:
„Nein, ich kenne sie nicht."
Kau-Ruck betrachtete interessiert den Apparat und hörte der Unterredung zu. Ilsor reagierte auf alles mit der gewohnten Ruhe. Nur sein Blick war vielleicht etwas aufmerksamer als sonst.
„Und wie heißen sie?" fragte Baan-Nu schlau. Verwundert entgegnete Ann „Wie kann ich die Namen dieser Leute wissen, wenn ich sie nicht einmal kenne?" Dann folgten die Fragen, die Baan-Nu wiederholt dem Weber gestellt hatte. Aus den Berichten von Faramant und dem Scheuch kannte Ann alle Fragen und Antworten.
Ausführlich erzählte sie dem General, daß das Land, in dem die Fremdlinge gelandet waren, Goodwinien sei, daß es so genannt werde nach König Goodwin und daß die Königreiche, die der tapfere König an sich gebracht habe, Gingemenien und Bastindien hießen.
Als Baan-Nu die bekannten Namen hörte, wurde er ruhiger. Und als das Mädchen auf die Frage nach dem Riesen genau so antwortete, wie seinerzeit Mentacho, war der General endgültig überzeugt, daß der gefangene Weber die Wahrheit gesprochen hatte. Wie hätte auch ein kleines Mädchen aus einem ganz anderen Landesteil sich dasselbe ausdenken können wie Mentacho.
Baan-Nu blickte Ann nicht mehr finster an, seine Stimmung besserte sich zusehends. „Jetzt, da Sie alles von mir erfahren haben, was Sie interessiert", begann Ann höflich, „könnten Sie mich doch eigentlich nach Hause lassen?"
Doch kaum hatte der Apparat diese Bitte übersetzt, da verfinsterte sich das Gesicht des Generals aufs neue. „Nein", sagte er hart. „Du bleibst hier, zusammen mit Mentacho und Elvina. Ich werde ihnen befehlen, daß sie sich um dich kümmern." Begleitet von Ilsor und Kau-Ruck, verließ der General das kleine Haus. „Na, herrlich", rief ihm Ann hintendrein. „Tilli-Willi macht aus jedem von euch Bouletten."