Die Sprechmaschine übersetzte gewissenhaft die letzten Worte des kleinen Mädchens, doch zum Glück hörte sie keiner.
Als die Gefangenen allein geblieben waren, sah Ann mit schlauem Lächeln Mentacho und Elvina an und sagte: „Seid nicht traurig."
Sie blies in Raminas Pfeife, und sofort stand die Königin der Feldmäuse mit ein paar Hoffräulein vor ihr.
Elvina stieß einen kleinen Schreckensschrei aus. Sie hätte selbst nicht gedacht, daß sie noch so gewandt auf einen Stuhl springen könnte: Die gute alte Frau hatte eine Heidenangst vor Mäusen.
„Seid gegrüßt, Hoheit!" wandte sich das kleine Mädchen höflich an die Königin. „Verzeiht, daß ich Euch belästige, aber es steht schlecht um mich..." Ramina erwiderte:
„Guten Tag, liebe Ann! Hast'du etwa kein Recht auf meine Hilfe? Du bist die Besitzerin der silbernen Pfeife! Aber wie bist du in die Gewalt der Außerirdischen geraten?" „Ihr wißt es bereits?" fragte Ann verwundert. „Natürlich", fuhr Ramina ruhig fort. „Mich hat schon seit langem meine königliche Schwester, die Königin der Fledermäuse Tarriga, eingeweiht. Ihre Untertanen haben den ungebetenen Gästen vor kurzem ein hübsches Konzert hingelegt!"
Ramina kicherte belustigt, und die Hoffräulein stimmten ehrfürchtig ein.
„Ich kann mir vorstellen, wie meine Freunde sich jetzt um mich sorgen", sagte Ann niedergeschlagen. „Vielleicht denken sie gar, daß ich nicht mehr lebe..."
„Nun übertreibst du aber wirklich, liebe Ann", tröstete die Königin der Feldmäuse.
„Wozu hat der Scheuch seinen Zauberkasten? Ich bin sicher, daß deine Freunde alles über dich wissen. Ich werde es gleich überprüfen."
Bevor Ann etwas sagen konnte, war Ramina verschwunden, und im Blauen Häuschen blieben nur die Hoffräulein zurück, die die alte Elvina ängstlich von der Seite musterte. Ungefähr zwanzig Minuten waren vergangen, da kehrte die Königin äußerst zufrieden zurück. Sie war bereits überall gewesen.
„Natürlich ist alles so, wie ich es mir dachte", verkündete sie. „Kaum waren Fred und Tim im Schloß des Scheuchs angelangt, da begann schon der Zauberkasten zu funktionieren, und deine Abenteuer wurden bekannt. Deine Freunde hoffen, dir bald zu Hilfe zu kommen... Im übrigen haben auch meine Untertanen einen Auftrag von staatlicher Bedeutung erhalten."
Ann erriet sofort, was das für ein Auftrag war. Die beiden Alten boten den Mäusen einen hervorragenden Imbiß aus Speckstückchen und gerösteten Brotkrumen an. Das Festgelage dauerte bis in die Nacht. Ramina versprach, in den kurzen Pausen zwischen dem Staatsdienst Ann zu besuchen und ständigen Kontakt zwischen Ann und deren Freunden herzustellen. In außergewöhnlichen Situationen sollte sich Ann der Pfeife bedienen.
Die Mäuse erfüllten bereitwillig den wichtigen Staatsauftrag, und der unterirdische Gang wuchs nicht täglich, sondern stündlich. Den Mäusescharen folgten auf dem weichen, aufgelockerten Erdreich, das großartig die Schritte dämpfte, die Brigaden von Lestar und Rushero. Sie verlegten die Rohre, die die Holzköpfe trugen. Die scharfzähnige Mäuseschar war in Regimenter und Divisionen unterteilt, und jede Einheit hatte einen Arbeitsabschnitt. Die einen fraßen sich in das Erdreich, bohrten Tausende Höhlen, die, miteinander vereint, eine große Höhle bildeten; andere schafften die Erde sorgfältig in sehr kleinen Fuhren, damit keiner es bemerke, zu den Baumwurzeln im Wald. Die übrigen drangen ins Schloß ein. Ann schlief friedlich im Blauen Häuschen, an dessen Tür wieder ein Wachsoldat stand, während die grauen Heerscharen geschäftig in Ranavir hin und her liefen. Mit verwunderlicher Geschicklichkeit drangen die Mäuse durch winzige Löcher und Ritzen. Sie schlüpften durch schlecht verschlossene Zimmertüren und in die Schränke. Am nächsten Morgen waren in den Werkstätten der Menviten an allen elektrischen Leitungen die Isolationen durchgeknabbert. Kolben, Mensur- und Reagenzgläser lagen zerschlagen auf dem Fußboden, ihr Inhalt war ausgeflossen. Die Behälter mit den Brennstoffproben waren durchlöchert, der Brennstoff versickerte trüb. Von den Herbarien, die die Menviten im Zauberland angelegt hatten, war einzig Mulm geblieben. Nur die Kragen der Overalls hingen traurig auf den Bügeln. Der übrige Stoff lag zerfetzt auf den Dielen verstreut.
Baan-Nu schlief noch, als Ilsor sein Zimmer betrat. Auf der Schwelle blieb er wie angewurzelt stehen und rieb sich verwundert die Augen. Dann rief er leise: „Mein General, Baan-Nu!"
Der Angerufene schlug die Lider auf. Erschrocken zuckte er zusammen. Sofort war er hellwach. Vor ihm breitete sich das verheerende Bild einer schrecklichen Zerstörung aus. Vom Tigerfell vor seinem Ruhebett war nur der Flaum übrig. Der Morgenmantel des Generals war zerfetzt, seine herrlichen Stiefel glichen jetzt eher den Riemchensandalen der alten Griechen. Das feine Saffianleder war ratzekahl aufgefressen. Ilsor wollte dem General die Uniform reichen, doch im Schrank lag nur ein Haufen Lappen.
Im Nachthemd, ohne auf eine neue Uniform aus der „Diavona" zu warten, rannte Baan-Nu mit stockendem Herzen ins Arbeitszimmer. Er ahnte fürchterliches Unheil. Am Abend war er nach der Beschreibung des Kampfes gegen die unsichtbaren Heere so unheimlich müde gewesen, daß er zwar den Punkt hinter das letzte Wort gesetzt, das Manuskript aber nicht wie gewöhnlich in die Aktentasche geschoben und unter seinem Kopfkissen versteckt hatte. Die ganze Nacht über hatte er im Schlaf gegen die Unsichtbaren tapfer gekämpft. Sollte sein Traum etwa prophetisch gewesen sein?
Auf dem Tisch erblickte er einen Berg Papierstaub. Stöhnend faßte sich Baan-Nu an den Kopf und ließ sich in einen Sessel sinken.
Inzwischen war Mon-So zur Meldung erschienen. „Mein General", begann er. „In Ranavir ist alles zerschlagen und zerrissen, was man nur zerschlagen und zerreißen kann. Wahrscheinlich sind diese Erdenbürger angekommen..." Mon-So konnte seinen Satz nicht beenden. Im Türrahmen erschien der Arzt Lon-Gor:
„Mein General", sagte er, „die Mullbinden sind verschwunden, die Thermometer kaputt, alle Pülverchen ausgeschüttet und vermischt. Die Erdenbewohner..." „Was für Erdenbewohner? Lassen Sie mich doch mit Ihren Erdenbewohnern zufrieden!" brüllte der General, denn er konnte sich nicht mehr beherrschen. „,Die Eroberung der Belliora, mein Buch, mein Lebenswerk ist vernichtet", jammerte er, doch die Menviten verstanden ihn nicht.
Eigenartig war, daß in dem allgemeinen Tohuwabohu die persönlichen Gegenstände der Arsaken unberührt blieben. Baan-Nu befahl, die Gefangenen vorzuführen. Ann, Elvina und Mentacho traten ein. Doch die Bewohner des Blauen Häuschens verrieten nichts. Woher sollten sie auch etwas wissen, wenn die Fenster ihres Hauses mit Stahlgittern abgesichert waren, die Tür von außen verriegelt und der menvitische Wachsoldat keinen Schritt von der Vortreppe gewichen war ...
Dann kam der Tag, auf den sich Tim lange und gründlich vorbereitet hatte. Der Knabe zog einen bequemen Trainingsanzug und Stiefel mit weichen Sohlen an, um lautlos auftreten zu können. Er steckte Schraubenschlüssel, Schraubenzieher und Kneifzange ein. An den Gürtel knöpfte er einen Degen in einer Lederscheide. Den Silberreif befestigte er mit einem Riemchen am Kopf, um ihn nicht zu verlieren. Alles schien wohlüberlegt zu sein, doch Ingenieur Cunning ermahnte den Jungen immer wieder zur Vorsicht. Fred sagte:
„Die Fremdlinge wissen nicht, woher Ann kommt. Wenn die Ramerier dich gefangennehmen, merken sie an deiner Größe und Kraft, daß du kein Einwohner von Goodwinien bist."