Urfin nahm aus alter Gewohnheit eine Säge mit. Er mußte stets ein Handwerkszeug bei sich tragen. Eigentlich konnte er mit der Säge sowieso nichts anfangen. Nicht, weil die Rollsteine so riesengroß waren. Man kann mit einer Säge keinen Stein zersägen, umso weniger einen Zauberstein. Die Säge würde ihn nicht einmal ritzen. Urfin kletterte also auf einen der schwarzen Wunderwerke von Gingema und machte es sich dort bequem. Ihm fiel eine Untat der bösen Hexe nach der anderen ein. Doch so sehr sich der berühmte Gärtner auch anstrengen mochte, er erinnerte sich keines einzigen Zauberspruchs. Alles Böse war längst vergessen, und außerdem läßt sich Böses durch Böses nicht ausrotten. Miteins kam ihm ein glänzender Gedanke:
,,Wenn ich nun ein riesiges Feuer entzünde und diesen Stein hier erhitze? Alle Zauberei beginnt doch mit dem Feuer.
Gedacht, getan. Auf seinem Schubkarren beförderte er Reisig heran. Dann legte er rund um den schwarzen Stein ein riesiges Feuer. Die Flammen loderten auf und umzingelten gierig den Rollstein, der sich immer mehr erhitzte.
Plötzlich begann die Aufschrift „Gingema" zu schmelzen und blasser zu werden. Urfin bekam einen fürchterlichen Schreck: Wenn er nun zuviel des Guten getan hatte und die ganze Zauberei der Hexe sich in Dunst auflöste? Er rannte schleunigst zur Quelle, sprang dann um den Stein herum und besprengte ihn mit Wasser aus den Eimern und aus einer kleinen Tonne. Der schwarze Rollstein heulte, dehnte sich und zersprang in kleine Stücke. Das Seltsamste. aber war, daß auf jedem Teilchen die Aufschrift „Gingema" prangte. Das freute Urin unsagbar. Etwas Besseres hätte er sich nicht wünschen können. Mit seinem Schubkarren beförderte er mehrere Fuhren dieser Steinbrocken zu seinem Anwesen.
Fortan ließ ihm die Überlegung keine Ruhe mehr, wie er die verzauberten Steine nützlich verwenden könnte. Munter karrte Urfin sein Gemüse den schmalen Waldweg entlang. Beim Anblick der appetitlichen Gurken, Erdbeeren und Nüsse lachte sogar einem erfahrenen Gärtner wie ihm das Herz im Leibe. Wenn nur die schweren Gedanken nicht gewesen wären!
Unentwegt überlegte er: Wie ließen sich dem Anführer der Menviten die Smaragde entwenden? Der hatte sie in solchen Mengen angehäuft, daß man mit ihnen ein ganzes Volk, die Arsaken auf der fernen Rameria, befreien könnte. Plötzlich fiel Urfin der Bogen Papier ein, den die Krähe seinerzeit Baan-Nu gestohlen hatte. Kaggi-Karr hatte damals gedacht, daß sie den Plan für eine wichtige militärische Operation an sich gebracht hatte. Als Ilsor den Text gelesen hatte, gab es viel zu lachen: Über den General und über seine erfundenen wilden Abenteuer. Auf die Dauer weckten die Werke des kriegerischen Phantasten allerdings kein Interesse. Sie gerieten in Vergessenheit, nur Urfin erinnerte sich miteins, daß es den General nach Abenteuern
dürstete. Der Gärtner dachte bei sich: Wir wollen dafür sorgen, daß Baan-Nu mit den Steinen der Gingema ein Abenteuer erlebt.
Wenn die Zauberbrocken auch klein sein mochten, hatte doch jeder die Größe eines Pflastersteins. Wie sollten sie nur unbemerkt dem Chef der Menviten in die Hände gespielt werden? Legte man den Stein irgendwo hin, so würde der General ihn nicht beachten. Er fiel ja nur durch die Aufschrift auf.
Gingemas Souvenir konnte man leicht mit dem Gemüse ins Schloß schaffen. Das war nicht schwer. Aber wie weiter? Viele Male mußte Urfin den Schubkarren zwischen seinem Garten und dem Schloß hin und her schieben, bis endlich sein Plan fertig war. Eines Tages hörte er in der Küche, wie der Küchenchef einem Wachsoldaten von der Smaragdensammlung des Generals erzählte. Zu dieser Zeit konnte Urfin bereits einigermaßen Menvitisch sprechen.
Urfin murmelte vor sich hin: ,,Euer General mag ja reich sein. Aber seine Sammlung läßt sich wohl kaum mit den Schätzen aus der Geheimkammer von Hurrikap messen."
Der Koch war ganz Ohr: ,,Wo sind denn diese Schätze versteckt?"
,,Hier, bei euch", erklärte Urfin. ,,Die Geheimkammer ist im Schloß. Nur hat man sie gut getarnt. Keiner kennt genau den Ort."
,,Und woher weißt du davon?"
,,Ein weiser Wanderer hat darüber in einem alten Buch gelesen."
Von diesem Tage an gingen der Chefkoch und der Wachsoldat mit Metallstäben durchs Schloß und klopften Wände und Dielen ab, um die versteckte Schatzkammer zu finden.
Einst weckte dieses Klopfen Baan-Nus Aufmerksamkeit. Der Koch wurde sofort zum General geführt. Bei dem Verhör gestand der arme Kerl, daß er die Geheimkammer suche.
,,Du glaubst an diese Märchen?" Baan-Nu lachte spöttisch. Doch die Schätze gaben ihm keine Ruhe. Er wollte persönlich mit dem Gärtner sprechen. So eine Möglichkeit bot sich bald. Der General lauerte Urfin auf, als der gerade eine frische Fuhre Obst und Gemüse ins Schloß brachte, und schleppte ihn in sein Arbeitszimmer.
,,Was weißt du über Hurrikaps Geheimkammer?" fragte er mit sich überschlagender Stimme.
Urfin hatte diese Frage erwartet.
,,Ich weiß nur, daß sie sich in einem Schloßturm befindet", erwiderte der Gärtner. ,,Sie ist mit einem Stein, der die Aufschrift Gingema trägt, zugemauert. Aber Hurrikap hat seine Schätze vielleicht verzaubert. Auf alle Fälle hat keiner in unserem Land jemals nach ihnen gesucht."
Diese elenden Feiglinge. Aber das ist gut so. Ich werde die Schätze schon an mich bringen, dachte Baan-Nu bei sich und sagte laut: „Urfin, bitte erzähle keiner Menschenseele etwas davon."
Um dem General die Suche zu erleichtern, vertauschte Urfin ein paar alte verwitterte Steine gegen besser erhaltene mit der Aufschrift „Gingema". Der Plan, den sich Urfin ausgedacht hatte, um dem Anführer der Menviten die Smaragde abzunehmen, erinnerte an Sportangeln mit mehreren Angelruten, die weit voneinander ausgelegt werden.
Am darauffolgenden Morgen brachte der Gärtner seine Früchte in die Küche und glitt unbemerkt am Wachsoldaten vorbei, um seine ausgelegten Angeln, die Zaubersteine, zu besichtigen. In einem dunklen Winkel des Schlosses sah er, was er bereits geahnt hatte: Der General krümmte sich in einer unnatürlichen Haltung. Neben ihm auf der
Erde stand ein Leuchter. Die Kerze war zu einem Viertel heruntergebrannt. Baan-Nu war also erst vor kurzem in die Falle getappt. Schweigend versuchte er, seine Hand vom Stein loszureißen, was ihm jedoch nicht gelang. Angst und Gier kämpften in seiner Seele. Die Angst riet: Rufe nach Hilfe. Allein kommst du nicht frei. Doch die Gier flüsterte Wenn du jemanden zu Hilfe rufst, mußt du die Schätze teilen. Gib dir Mühe und befreie dich selbst.
Vorerst hatte die Angst die Gier noch nicht besiegt. Urfin lief ins Arbeitszimmer des Generals, suchte die Schlüssel vom Safe und schüttete geschwind den Inhalt der Schatullen in einen Sack. Die Schatullen füllte er mit Steinen. Der Heimweg war schwer, doch der Gärtner schien die Last nicht zu spüren. Schließlich hatte Urfin das Mittel in der Hand, um ein ganzes Volk zu befreien.
Nachdem Urfin die Smaragde versteckt hatte, eilte er wieder mit seinem laut knarrenden Schubkarren ins Schloß. Die Kerze war inzwischen verlöscht, aber Baan-Nu schwieg noch immer, denn er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, sich allein zu befreien. Als der Obermenvite den Schubkarren hörte, rief er den Gärtner. Urfin kam und half dem General, sich von dem Magnetstein zu lösen. Während Baan-Nu sich in seinem Arbeitszimmer von diesem neuen Abenteuer erholte, ersetzte Urfin die Steine der Gingema rasch durch gewöhnliche.