Die Einwohner wußten bereits, was das bedeutete. In der Smaragdenstadt lebten kleine vertrauensselige Menschen, die von ganzem Herzen wünschten, daß die Fremdlinge heimwärts zögen. Deshalb hätten sie den Menviten um nichts in der Welt die Wahrheit über das Schlafwasser verraten. Doch die Zeit drängte. Noch war das Sternschiff vermint. Ilsor mußte die Bombe entfernen oder zumindest entschärfen. Vorerst aber mußte man dem Führer der Arsaken mitteilen, daß ,,die Mäuse eingeschlafen sind".
Der Weg zu Ilsor war nicht weit, aber gefährlich. Deshalb schickte man nicht nur einen Läufer, dem unterwegs ja etwas zustoßen konnte, sondern sandte den Eisernen Ritter, den Drachen Oicho und sieben hölzerne Läufer aus.
Tilli-Willi stürmte die Gelbe Backsteinstraße entlang. In seiner Kabine saß Faramant und stöhnte vor Schmerz bei jedem Sprung. Er war schließlich nicht Lestar, der in den vielen Jahren seiner Freundschaft mit dem Riesen an solche Reisen gewöhnt war. Unter Willis eisernen Sohlen bildeten sich tiefe Schlaglöcher in der Straße. Doch was tat das schon? Schlaglöcher lassen sich reparieren. Hauptsache, man kam nicht zu spät. Munter trällerte Tilli-Willi vor sich hin:
,,Die Mäuse sind eingeschlafen. Ich schwöre es bei den Riffen. Die Mäuse sind eingeschlafen, die Mäuse sind eingeschlafen. Ich schwöre es bei der Ebbe ... Die Mäuse sind eingeschla-fen! ..."
Der Drache Oicho flog über Wälder und Felder. Auf seinem Rücken hatte der Dreimalweise Scheuch persönlich Platz genommen.
Ja, der Herrscher der Smaragdenstadt hatte Thron, Untertanen und Freunde verlassen. Er wollte das Zauberland, seine Felder und Wälder, vor allem aber seine Bewohner retten.
Der Scheuch sprang auf dem Rücken des Drachen im Takt des Schwingenschlags auf und nieder und sang vor sich hin
„Heiho, heiho, die Mäuse sind eingeschlafen. Die Mäuse sind eingeschlafen, ein-ge-schla-fen !"
Bisweilen blickte er hinab, und wenn Tilli-Willi ein wenig zurückblieb, so richtete er sich siegesgewiß auf. Wenn der Ritter jedoch voraus war, zappelte der Scheuch ungeduldig und trieb Oicho an, schneller zu fliegen. Da ließ sich nichts machen. Der gütige Scheuch war halt sehr ehrgeizig.
Auf Wildpfaden folgten die hölzernen Läufer dem Ritter. Sie machten nicht so große Schritte wie Tilli-Willi, dafür bewegten sich ihre Beine flink wie Fahrradspeichen, und ihre hölzernen Körper erinnerten an Masten, die durch die Luft zu schwingen schienen. Man hatte ihnen aufgetragen, die Worte der Meldung ständig zu wiederholen, um sie nicht zu vergessen. Deshalb plapperten sie ununterbrochen: ,,Die Mäuse sind eingeschlafen, die Mäuse sind eingeschlafen, die Mäuse sind eingeschlafen! ... "
Der Wettlauf spornte die Läufer an, und einer suchte den anderen zu überholen. Wenn es einem von ihnen gelang, davonzuziehen, hänselte er die anderen: „Schnecken! Schildkrötenkinder! Schwanzlose Krebse!"
Das Spiel erreichte immer dann einen Höhepunkt, wenn Tilli-Willi, der nicht hinter dem Scheuch zurückbleiben wollte, stehenblieb, um den Himmel nach Oicho abzusuchen, und es in diesem Moment einem der Kuriere gelang, wenn auch nicht für lange Zeit, in Führung zu gehen. Dann erhoben die hölzernen Läufer ein unvorstellbares Geschrei. Es war sehr günstig, daß sich gleichzeitig mehrere Abgesandte, Tilli-Willi, der Drache und die Läufer, auf den Weg gemacht hatten. Das war eine Idee des weisen Scheuchs gewesen.
Es schien, als kämen die Worte aus dem Himmel, sie tönten über die Erde und wurden vom Echo zurückgeworfen: ,,Die Mäuse sind eingeschlafen, die Mäuse sind eingeschlafen, die Mäuse sind eingeschlafen!"
Die Kuriere brauchten keine ernsthaften Hindernisse zu überwinden. Tilli-Willi durchwatete nur den Großen Fluß, weil er die Brücke nicht beschädigen wollte. An der tiefsten Stelle reichte ihm das Wasser bis an die Schultern. Faramant schauderte, als er hörte, wie die Wellen plätschernd gegen die eiserne Brust des Riesen schlugen. Der Drache hatte es gut. Er beachtete das glitzernde blaue Band in der Tiefe überhaupt nicht. Die hölzernen Läufer mußten beim Passieren der Brücke ein wenig ihr Tempo mindern. Dafür zogen sie, als sie das andere Ufer erreicht hatten, mit neuer Kraft davon. Im Zauberland war es längst Nacht geworden. Die Gelbe Backsteinstraße war zu Ende. Keine Laternen und Bogenlampen beleuchteten mehr den Weg durch die Dunkelheit. Unwillkürlich verlangsamten Tilli-Willi und die hölzernen Läufer ihren Lauf. Selbst Oicho schlug vorsichtiger mit den Schwingen. Schließlich konnte man sich in der Nacht leicht verirren und in eine falsche Richtung fliegen. Die Lieder verstummten, und auch die sieben Läufer schwiegen. Doch zielstrebig setzten sie ihren Weg fort, wie von unsichtbaren Magneten angezogen.
So langten alle gleichzeitig an Hurrikaps Schloß an.
Am nächsten Tag war klar: Die Arsaken waren gerettet, ebenso Mentacho und Elvina. Hurrikaps altes Schloß stand, und das Raumschiff „Diavona", dieses Wunderwerk der Technik, war unbeschädigt. Wenn alles ein glückliches Ende finden würde, so könnten Ilsor und seine Freunde wohlbehalten mit ihm nach Rameria zurückkehren. An jenem Tag wurde das Zauberwasser aus dem Brunnen von Ranavir den Menviten an alle Gerichte gegeben. Da keiner wußte, welche Dosis auf ihren kräftigen Organismus wirken würde, gossen die Arsaken, ohne zu geizen, reichlich Wasser an die Suppe, die Soßen und den Most.
Das Mittagessen verlief wie gewöhnlich. Den Arsaken war keinerlei Erregung anzumerken, ruhig trugen sie die Gerichte auf, vielleicht blickten nur ihre Augen etwas aufmerksamer als gewöhnlich. Die arsakischen Köche kochten schmackhaft. Die Menviten konnten über Appetitlosigkeit nicht klagen, so daß sie auch heute den Speisen reichlich zusprachen. Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. Noch war das Mittagsmahl nicht beendet, da fielen die Menviten, die Flieger mit Mon-So an der Spitze, die Wachsoldaten des Sternschiffs, die Ilsor durch Arsaken ersetzt hatte, der Arzt Lon-Gor und Baan-Nu höchstpersönlich in einen tiefen Schlaf. Ihre Köpfe sanken haltlos auf den Tisch. Die Gesichter strahlten sorglose Ruhe aus, die Hände hingen kraftlos herab, die Augen, die so hoffärtig in die Welt geblickt hatten, waren geschlossen.
Nur der Pilot Kau-Ruck wurde nicht eingeschläfert. In der letzten Zeit war offensichtlich geworden, daß Baan-Nu ihn nur noch duldete. Auch Kau-Ruck verhielt sich dem General und den anderen Menviten gegenüber äußerst zurückhaltend. Ilsor hatte von Baan-Nu erfahren, daß Kau-Ruck, sobald sie auf Rameria landen würden, dem Obersten Gebieter Guan-Lo persönlich ausgeliefert werden würde. Der Pilot hatte eine strenge Strafe zu erwarten, weil er eigenmächtig den Kampf mit den Adlern aufgegeben hatte. Vielleicht würde er sogar in der Wüste von Rameria an einen Stein gefesselt und allein zurückgelassen werden. Nach menvitischem Gesetz war es dann seine Sache, wie er überleben würde. Ilsor fragte den Piloten:
„Mein Oberst, sind Sie bereit, den Arsaken zu helfen?"
„Jawohl", entgegnete Kau-Ruck, ohne zu zögern. „Ich habe Sie lange beobachtet und habe immer größere Hochachtung vor Ihnen bekommen, Ilsor. Ich habe hier öfter darüber nachgedacht, daß Sie wohl nicht auf ewige Zeiten Diener bleiben werden. Offenbar diente Ihnen diese Position nur zur Tarnung ... Jetzt werden sich wohl die Zeiten ändern?"
Ilsor nickte. „Ich biete Ihnen ein Bündnis mit uns Arsaken an. Unser Auftrag ist folgender: Sie müssen gemeinsam mit mir das Raumschiff nach Rameria zurückbringen. Dort dürfen Sie jedoch über alles, was Sie hier erlebt haben und noch erleben werden, erst dann sprechen, wenn wir es Ihnen gestatten."