„Ich will mit Freuden all Ihre Aufträge ausführen", erwiderte der Pilot. „Aber ich kann nicht versprechen, mich Ihnen anzuschließen, denn ich bin gewohnt, für mich allein zu sein."
So hatte man sich denn geeinigt. Dann ertönten im Lager von Ranavir zuerst unsichere, gar verwunderte Ausrufe: „Freiheit? Freiheit?"
Allmählich klangen die Stimmen immer entschiedener: „Freiheit! Freiheit!" Die Arsaken fielen einander froh in die Arme und beglückwünschten sich gegenseitig. Einige weinten vor Freude, andere taten es dem Dreimalweisen Scheuch gleich, der in Augenblicken höchsten Jubels stets begeistert zu tanzen pflegte. Ilsor, dem mutigen Anführer der Arsaken, der jahrelang in menvitischen Diensten sein Leben riskiert hatte, wurde eine ganz besondere Ehre zuteil. Die Arsaken brachten einen Mantel, der unter anderen Kleidungsstükken in der „Diavona" gelegen hatte, die Menviten hatten ihm keine sonderliche Bedeutung beigemessen. Dabei hatte es mit ihm folgende Bewandtnis: Nach altem Brauch legten die Arsaken zu besonders festlichen Anlässen, wenn jemand' mit dem höchsten Titel ihres Landes - „Volksfreund" -ausgezeichnet wurde, dem so Geehrten diesen Mantel an. Heute wurde diese Ehrung Ilsor zuteil.
Da stand er nun vor seinen Landsleuten in dem prächtigen, mit goldenen Sternen durchwirkten blauen Mantel, strahlend vor Glück und vor Stolz, und seine großen schwarzen Augen leuchteten heute noch herrlicher als gewöhnlich. Die Arsaken lasen Ilsor buchstäblich jedes Wort vom Munde ab und befolgten seine Anordnungen präzise und ohne Widerspruch.
Seine erste Anordnung galt den Menviten. Keiner wußte, wie lange das Schlafwasser auf sie wirken würde. Unter Umständen konnten sie sehr bald erwachen. Die Erdbewohner schliefen zwar mehrere Monate hindurch und erwachten unschuldig wie kleine Kinder, die sich an nichts mehr erinnerten. Die Menviten hingegen konnten schon nach ein paar Stunden erwachen und sich, als sei nichts geschehen, an ihr gewohntes Tagewerk begeben.
Aus diesem Grunde befahl Ilsor, die schlafenden Auserwählten umgehend ins Sternschiff in jene Schlafkojen zu schleppen, in denen die Außerirdischen zur Erde geflogen waren. So geschah es. Gegen Morgen befanden sich alle Menviten, die in den Zauberschlaf gesunken waren, wieder in den Unterdruckkammern, wo der Schlaf viele Jahre währt.
„So ist es sicherer!" meinte Ilsor.
Jetzt war die Zeit gekommen, um in die Hauptstadt von Rameria, Bassani, eine Meldung durchzugeben. Sie wurde mit dem Piloten Kau-Ruck abgesprochen und lautete folgendermaßen:
„An den Obersten Gebieter von Rameria, den Würdigsten unter den Würdigen, Guan-Lo. Melde im Auftrag des Kommandanten: Auf der Erde gibt es kein Leben. Es ist unmöglich, hier zu existieren, ohne die Raumanzüge abzulegen. Die Besatzung ist von einem seltsamen Schlaf umfangen. Wir kehren zurück. Stellvertretender Kommandant Sternpilot Kau-Ruck."
Nachdem das Schlafwasser seine Aufgabe erfüllt hatte, wurden die Hähne zugedreht und an der Zauberquelle wie gewöhnlich Wachen aufgestellt. Nachdenklich sagte Ilsor: „Ja, eure Quelle ist ein Rätsel. Sicher enthält sie bislang noch unbekannte Stoffe. Sie sind es wohl auch, die alle Lebewesen einschläfern."
„Von dem Wasser müßten Sie mehr auf Ihrem Planeten haben, nicht wahr?" meinte Tim. Seine Augen funkelten abenteuerlustig. „Da könnten Sie Ihre ganzen menvitischen Herrschaften einschläfern."
„Nehmen Sie doch einen reichlichen Vorrat von diesem Wasser mit", fügte Ann hinzu. „Soviel, wie wir brauchen, können wir sowieso nicht transportieren", seufzte Ilsor und lächelte über den Eifer der Kinder. „Es würde sich auch nicht so lange frisch halten. Ihr wißt doch selbst, daß das Wasser sehr schnell seine Zauberwirkung verliert." Alles war bereit, damit die „Diavona" den Rückflug zur fernen Rameria anträte. Die Stunde des Abschieds war gekommen.
„Ilsor, haben Sie auch nicht vergessen, daß Sie alle der Scheuch erwartet?" erinnerte Alfred Cunning.
Ilsor und seine Freunde hatten selbst den großen Wunsch, die Smaragdenstadt zu besuchen, den Eisernen Holzfäller und den Tapferen Löwen kennenzulernen und mit eigenen Augen den berühmten Bart von Din Gior und die nicht weniger berühmte grüne Brille des Torhüters zu betrachten. Es heißt ja nicht umsonst im Sprichwort: Besser einmal gesehen, als hundertmal gehört.
Die Arsaken wählten die Helikopter aus, die am wenigsten im Kampf gegen die Adler gelitten hatten, und reparierten sie flugs. In einem von ihnen nahm Ilsor Platz. Er wollte nach dem Steuerknüppel greifen, als ihm der Pilot Kau-Ruck zuvorkam. Er war hinter Ilsor zusammen mit einer Gruppe Arsaken eingestiegen.
„Gestatten Sie", bat er, „ich kenne den Weg in die Smaragdenstadt."
„Warten Sie! Fliegen Sie noch nicht los!" erklang miteins ein helles Stimmchen von der Erde unmittelbar an der Gangway.
Der Anführer der Arsaken und der Pilot bückten sich suchend. Kau-Ruck vergaß sogar vor Überraschung, sich wieder aufzurichten: Noch niemals hatte er so winzigkleine Menschlein gesehen. Auf dem Erdboden wimmelte es von Zwergen in grauen Umhängen und bunten Mützen. In den Händen hielten sie Angelruten aus Schilfrohr. An ihrer Spitze stand Kastaglio.
„Haben Sie irgendeine Bitte an uns, Freund Kastaglio?" fragte Ilsor den Ältesten unter den Zwergen. Der Zwerg war sogar ein wenig gekränkt: „Was soll das heißen? Was für eine seltsame Frage! Wir wollen zurück in unsere Höhle. Der Ritter Tilli-Willi hatte uns hergebracht. Er hat schließlich lange Beine!"
„Ach das ist's!" Ilsor lachte. „Ihr wollte nach Hause! Dann steigt nur ein in den Helikopter. Nehmt Platz, Freunde." Er wandte sich an die Arsaken: „Seid ihnen doch behilflich!"
Einer der Arsaken eilte die Gangway hinab und sammelte behutsam die Menschlein mit ihren grauen Umhängen in einen Korb. Ein anderer Arsake verteilte sie auf die Plätze. Die Zwerge füllten den gesamten Helikopter. Sie saßen auf den Sitzen, unter den Sitzen, auf dem Fußboden, auf ihren ausgebreiteten Umhängen, und einige von ihnen fanden sogar auf Tims und Anns Schoß Platz. Obwohl sie durch Erfahrungen und ein langes
Leben weise geworden waren, wirkten sie noch immer mopsfidel, sie quietschten und lachten vor Vergnügen und schubsten einander übermütig.
Doch was für ein Geschrei und Lachen erhob sich erst, als der Helikopter sich von der Erde löste und in die Lüfte aufstieg!
Die Zwerge erblickten das ewige Blau des Himmelzelts, an dem schneeweiße Wolken dahinsegelten. Unter ihnen dehnten sich endlos die grünenden Felder und Wälder. Sicher wäre es hier oben unheimlich still gewesen, wenn der Helikopter nicht gesurrt hätte und die kleinen Menschlein selbst nicht so laut gewesen wären. Die Zwerge fühlten: Wahrscheinlich würden sie sich ihr Leben lang an diesen Flug erinnern. Er bereitete ihnen ein riesiges Vergnügen. Kastaglio, der zu Kau-Ruck auf die Schulter geklettert war, wies den Weg zu den ehemaligen Besitzungen von Arachna, dorthin, wo seit Jahrtausenden ihre Großväter, Urgroßväter und Ururgroßväter gelebt hatten. Es wurde eine sehr lustige Reise, traurig war nur, daß sie zu Ende ging. Doch alles nimmt schließlich einmal ein Ende! Die Zwerge verabschiedeten sich von ihren Freunden und der Helikopter nahm Kurs auf die Smaragdenstadt.
Man hielt sich auch diesmal an den von Goodwin eingeführten Brauch: Der Torhüter verteilte grüne Brillen an die Gäste. Dann geleitete er alle in den Festsaal des Smaragdenschlosses. Die Tafeln waren gedeckt, es wirkte wie eine Parade der leckersten Speisen! Doch den Gästen war eine andere Parade wichtiger, die Parade der Wunder. Mit lebhafter Neugier betrachteten die Arsaken den Strohscheuch und den Eisernen Holzfäller. Der riesige Kopf von Tilli-Willi mit den Schlitzaugen und den schrecklichen Hauern, der im offenen Fenster auftauchte, verblüffte sie. Die Ehrenwache an den Saalwänden, die aus Ästen und Zweigen geschnitzt waren, setzte sie in Erstaunen. Doch die Wachsoldaten gingen auf und ab und unterhielten sich wie ganz gewöhnliche Menschen.