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«Das war Dankbarkeit.«

«So kann man's auch nennen«, lachte Frau Schwabe bitter.

«Petsch war mit mir zur Klinik gefahren. Ich habe mich noch einmal untersuchen lassen, um genau zu wissen, wann das Kind kommt. Ich — ich hatte einen Plan. Wenn ich noch etwas Zeit gehabt hätte, wollte ich nach Bernegg fahren, zu Erich. Aber der Arzt sagte, ich solle in Köln bleiben. Es wäre ungewiß, ob ich die lange Eisenbahnreise überstehen könnte. Und dann hat mir Petsch angeboten, mich mit dem Auto nach Bernegg zu bringen. Und darum habe ich ihm einen Kuß gegeben — nur darum.«

Frau Hedwig Schwabe sah starr aus dem Fenster. Ihr Gesicht war maskenhaft weiß und unbeweglich. So war es, dachte sie, oder so könnte es gewesen sein. Und wenn es nur eine Lüge war? In ihrer Kampfbereitschaft für ihren Sohn war sie gewillt, an das letztere zu glauben. Sie lügt, redete sie sich ein. Es darf nicht anders sein. Sie lügt.

Dr. Mainetti ging wortlos im Zimmer auf und ab. Sie war bereit,

Ursula zu glauben, und grübelte nun darüber nach, wie man es Erich Schwabe erklären sollte. Eines war nun gewiß: Es hatte ein paar Stunden gegeben, in denen Ursula Schwabe ihren Mann vergessen hatte. Diese Stunden so zu erklären, daß sie auch Erich Schwabe begriff, war ein Unternehmen, das selbst Lisa Mainetti in diesem Zustand Schwabes als aussichtslos betrachtete. Für ihn gab es keine Erklärungen mehr, keine Argumente, keine verzeihende Vernunft. Für ihn gab es nur noch die Abkehr von allem, was gewesen war, die völlige Isolierung seines Ichs, eine kleine, neue Welt, die so eng war, daß sie nur Platz bot für ihn allein. Und heute und auch in den kommenden Wochen war es unmöglich, ihn aus dieser Welt herauszureißen. Es bedurfte nur eines Blicks in den Spiegel, und er würde wieder zurückrasen in die Einsamkeit. Erst wenn sein Gesicht wieder so aussah, daß er selbst von sich sagen konnte: Ich sehe wieder wie ein Mensch aus — erst dann gab es eine Möglichkeit, eine Brücke zwischen Einsamkeit und Leben zu bauen.

Dr. Mainetti blieb stehen. Sie sah die beiden Frauen mit einem Ausdruck an, der Frau Hedwig Schwabe instinktiv erkennen ließ, daß hier eine Gegnerin vor ihr stand. Sie straffte sich und erwiderte den Blick Lisas.

«Nun?«fragte sie kampfbereit.

«Sie haben mir die Wahrheit gesagt«, begann Dr. Mainetti.»Erwarten Sie, daß Ihr Sohn und Ihr Mann diese Wahrheit einfach hinnimmt?«

«Nein. «Frau Hedwig Schwabe räusperte sich.»Aber ich kann als seine Mutter mit ihm sprechen und ihm.«

«Sie werden nicht mit ihm sprechen.«

«Doch.«

«Nein.«

«Ich möchte wissen, wer mich zurückhalten könnte.«

«Ich.«

«Ich werde vor das Schloß ziehen und so lange schreien, bis mein Sohn mich hört«, sagte Hedwig Schwabe mit einer Kälte, die selbst Lisa erschauern ließ.

«Und ihr Sohn wird Sie schreien lassen. Er haßt alles, was außerhalb dieser Mauern ist.«

«Ich bin seine Mutter. Ein Sohn kann seine Mutter niemals hassen. Das gibt es nicht.«

Dr. Mainetti blieb vor Frau Schwabe stehen. Sie starrten sich an — zwei unerbittliche, mitleidlose Feindinnen.

«Warum haben Sie über ein Jahr geschwiegen?«fragte Lisa leise.

Frau Schwabes Augen begannen zu flimmern.

«Um meinen Sohn zu schonen.«

«Und nun ist das nicht mehr nötig?«

«Er weiß es jetzt. Nun braucht er mich, um es zu überwinden.«

«Das glauben Sie. «Lisa holte Atem. Es ist gemein, was ich sage, dachte sie, aber ich muß es aussprechen, um Erich Schwabe zu retten.»Ich weiß, daß Ihr Sohn Sie als eine Mitschuldige betrachtet. Er weiß, daß Sie diesen Petsch in Ihrer Wohnung geduldet haben. Weil er Speck und Butter brachte, Eier und Schinken. Und Schnaps. Frau Schwabe — Schnaps, den Sie heimlich tranken, um Ihr Gewissen zu betäuben. So ist das. Auch Sie will Ihr Sohn nicht mehr sehen.«

Frau Schwabe saß wie ein Wachsfigur, steif und unbeweglich. Nur ihre Augen flackerten. Neben ihr weinte Ursula lautlos in ein Taschentuch, das sie sich vor das Gesicht hielt.

«Mein — mein Sohn soll mir das selbst sagen. Mir ins Gesicht. Seiner Mutter ins Gesicht«, sagte Frau Schwabe dumpf.»Erst dann glaube ich es und gehe.«

«Er hat es gesagt«, rief Lisa Mainetti grob.»Durch mich.«

«Und was soll nun werden?«fragte Ursula kläglich.»Es kann doch nicht so bleiben. Es ist doch sein Kind. Sie glauben es mir doch, Frau Doktor, nicht wahr?«

Lisa nickte und legte den Arm um die zuckende Schulter Ursulas.»Vor einem Jahr sagte ich zu Ihnen: Geduld, Geduld. Ich kann Ihnen heute nichts anderes sagen. Doch — ein anderes Wort ist dazugekommen: Kraft. Besitzen Sie die Kraft, unendlich geduldig zu sein. Das ist alles, was Sie tun können. Und bringen Sie Ihr Kind zur Welt — mit Freude. Dieses Kind könnte eine Brücke sein — die einzige.«

«Und ich kann Erich nicht sehen?«»Nein. Er will es nicht.«

«Dann darf ich Sie bitten, einen Brief an ihn mitzunehmen«, sagte Frau Hedwig Schwabe. Sie hielt Dr. Mainetti ein Kuvert hin. Lisa schüttelte den Kopf.

«Wozu? Er wird ihn ungeöffnet zerreißen, wie er das Telegramm zerrissen hat. Für ihn gibt es jetzt kein >Draußen< mehr.«

«Aber ich bleibe in Bernegg«, sagte Frau Schwabe steif.

«Ich auch«, stammelte Ursula.

«Wir warten hier.«

«Das ist doch sinnlos. Es kann Monate dauern, vielleicht Jahre. «Dr. Mainetti sagte das Letzte, was sie eigentlich verschweigen wollte.»Es wird für Erich Schwabe nicht eher einen Weg zurück zu den Menschen geben, bis er sein Gesicht völlig wiederhat.«

Frau Hedwig Schwabe nickte.»Ich bin jetzt 63 Jahre«, sagte sie.»Ich bin noch nicht zu alt zum Warten. Ich bleibe hier.«

Dr. Mainetti spürte, daß es endgültig war. Es gab keine weiteren Worte mehr, die nutzbringend gewesen wären. Sie blieben hier, eine alte Frau und eine junge Mutter. Sie würden hier unten im Tal sitzen, in Bernegg, in einer kleinen Wohnung, sich mit irgend etwas ernähren. Und warten, warten, immer nur warten. Und jeden Tag hinaufstarren zum Schloß, wo hinter einer hohen Mauer ein Mann durch den Park ging und nach jeder gelungenen Operation an seinem Gesicht sich mehr zum Leben zurücksehnte.

«Ich kann Sie nicht daran hindern«, sagte Lisa Mainetti.

«Nein. Das können Sie nicht«, antwortete Frau Schwabe fast stolz.

«Wenn ich Ihnen helfen kann.«

«Danke. Wir helfen uns selbst. Helfen Sie meinem Sohn.«

Ohne ein weiteres Wort verließ Dr. Mainetti das Zimmer und fuhr zurück zum Schloß. Sie hatte das deutliche Empfinden, der alten Frau unterlegen zu sein. Diese unerklärliche, mütterliche Kraft — das war etwas, vor dem jeglicher Verstand versagte.

In der Nacht bekam Ursula die ersten Wehen. Ein Krankenwagen brachte sie nach Würzburg in das bereitgestellte Bett.

Um 9 Uhr morgens gebar sie das Kind. Einsam, weinend, nur im

Beisein der Hebamme. Und als sie zurückkam in das Krankenzimmer, erschöpft, schweißgebadet, den Lysolgeruch des Kreißsaales um sich, empfingen sie kein Blumenstrauß, kein liebevoller Händedruck, kein Dankeskuß, kein liebes Wort, keine glücklichen Augen, keine Zärtlichkeit.

Man hob sie in ihr Bett, stellte eine Tasse Tee neben sie auf den Nachttisch und überließ sie der Einsamkeit.

«Ein Mädchen«, sagte Ursula, nur um etwas zu hören, einen Laut, eine menschliche Rührung.»Es ist ein Mädchen, Erich. Sollen wir es Erika nennen?«

Dann drehte sie sich zur Wand und weinte mit gegen den Mund gepreßten Fäusten.

Lisa Mainetti traf Erich Schwabe im Park. Er saß, in einen dicken, alten Militärmantel gehüllt, am Teich und fütterte mit Maiskörnern einen Schwarm Grünmeisen.

«Gratuliere«, sagte Lisa und klopfte Schwabe auf die Schulter. Erich Schwabe nickte beifällig.

«Nicht wahr, sie sind fast zahm. Es ist schön, mit Tieren zu leben. Sie machen es einem leicht, nicht mehr an die Menschen zu denken.«