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«Man — man braucht Zeit«, stotterte Susanne Oster.

Oster schüttelte den Kopf.»Wir haben nun keine Zeit mehr. Hinausgeworfen haben sie mich. Worauf sollen wir denn noch warten? Es wird nie mehr anders sein. Nie. Nie. Ich werde nie mehr der Christian Oster sein. «Er starrte sie wieder an, leer, mit der Weite der Einsamkeit in den Augen.»Aber ich liebe dich«, sagte er leise.»Ich habe dich immer geliebt, du weißt es. Ich habe alles mit mir machen lassen, nur weil ich dich liebte. Fünfundvierzigmal habe ich mich operieren lassen.«

Susanne schluckte krampfhaft.»Vielleicht — vielleicht wäre es besser gewesen, du wärst so nach Hause gekommen, mit den Narben, mit der zerstörten Nase, so, wie du warst. Ich — ich hätte dich eher wiedererkannt, du wärst mir nie so fremd gewesen wie jetzt.«

«Es ist eben aus«, sagte Oster dumpf.

Er stand auf, ging ein paarmal sinnlos um den Tisch herum, trat ans Fenster und sah hinaus auf den verschneiten Garten. Eine lange Reihe Grünkohl stand im Schnee. Er schmeckte nach dem ersten Frost am besten. Grünkohl mit gebratener Mettwurst.

Dann machte Christian Oster seinen Rundgang durchs Haus, wie er es jeden Abend tat. Er schloß alle Türen ab, verriegelte die Fensterläden und drehte in der Küche den Wasserhahn kräftig zu, weil er tropfte und die Dichtung verrostet war.

Als er alles in Ordnung fand, kam er ins Zimmer zurück und blieb vor Susanne stehen. Er war bleich, und sein neues Gesicht sah merkwürdig verstört und wie eine leblose Maske aus Gummi aus.

«Es ist soweit«, sagte er mit ruhiger Stimme.

Susanne gab keine Antwort. Sie konnte nicht mehr. Osters Finger hatten ihren Hals umklammert, mit einer blitzschnellen Bewegung, die alle Gegenwehr ausschloß. Es war nur eine Sekunde Qual, bis Susanne das Bewußtsein verlor.

«So schnell geht es«, sagte Oster in die aufgerissenen Augen Susannes hinein.»So schnell, mein Liebling — und wir wollten uns ein ganzes Leben lang quälen. Warum denn? Warum?«

Als die letzte Regung in dem rundlichen Frauenkörper erloschen war, fing er Susanne auf, trug sie auf den Armen in das Schlafzimmer, deckte das Bett auf und legte sie hinein. Aus dem Wohnzimmer hol-te er aus zwei Vasen die großen Immortellensträuße, die Susanne jeden Winter als Dauerschmuck aufstellte, und legte sie neben den Kopf der Toten. Eine große, rote Immortelle schob er zwischen ihre Finger, die er über der Brust faltete.

Nachdem er sie aufgebahrt hatte, stieg er hinab in den Keller, nahm einen scharfen Spaten und begann, ein Loch in den nicht betonierten Boden des Holzkellers zu graben. Nach dreißig Zentimetern traf er auf eine Blechkiste. Er hob sie aus der Grube, öffnete sie und entnahm ihr ein Paket, eingewickelt in Fettpapier und mit Öl durchtränkt. Er riß die Verschnürung ab und wickelte eine neue, fettglänzende 08-Pistole aus dem Papier. Ein volles Magazin lag daneben.

Christian Oster stieß den Spaten in die Erde, lud die Pistole, und tappte wieder nach oben ins Haus. Dann setzte er sich neben seine Frau auf das Bett, sah auf die Uhr und nickte. Zehn Uhr abends. Es war noch früh. Er legte die Pistole auf sein Kopfkissen und schob seine Hände zwischen die erkaltenden Finger Susannes.

So saß er die halbe Nacht hindurch und ging in der Erinnerung sein Leben durch.

Er sah sich als Kind im Sandkasten spielen, und die Mutter saß davor auf einer Bank und strickte. Sie hatte immer gestrickt, eigentlich hatte er sie nie anders gesehen als mit klappernden Nadeln. Seinen Vater hatte er kaum gekannt. Als er zu denken begann, verunglückte der Vater in der Erzgrube bei einem Strebbruch. Als zusammengequetschte Fleisch- und Knochenmasse lag er in der Waschkaue der Grube, und Mutter begann jetzt schwarze Pullover zu stricken.

Die Schulzeit, die Lehrjahre, die erste Liebe. Emmi hieß sie, ein dralles Mädchen, der Vater war der Lebensmittelhändler des Orts, und bei ihm kaufte der junge Lehrling Christian Oster seine ersten Zigaretten und sogar eine Zigarre, weil er männlicher aussehen und der schönen Emmi imponieren wollte.

Dann kamen andere Mädchen. Die Stellung im Lohnbüro der Zeche. Die bessere Stellung in der Möbelfabrik Berger. In der Fußballmannschaft wurde er Torwart und Sportwart in der SA. Und dann lernte er Susanne Burte kennen, bei einem Sportfest. Sie tanzte mit anderen BdM-Mädchen einen Reigen und führte irgendeine Reifengymnastik vor. Hinterher hatte er sie angesprochen, sie hatten ein Eis gegessen. Und sie wußten gleich, daß sie sich liebten. Sie machten Ausflüge an den Sonntagen, und sie waren glücklich, wie es nur Verliebte sein können. Dann heirateten sie. Neun Tage später kam der Brief, der begann:»Sie haben sich am.«

Aus Susannes Armen weg zog er nach Polen. Dann kamen Frankreich und Griechenland. Und dann Rußland. Die Weite der ukrainischen Felder, die Steppe hinter Smolensk. Die vereisten Wälder bei Gorkij. Die schwabbenden, alles in sich hineinsaugenden Sümpfe des Pripjet.

Und dann heulte diese eine Granate heran, ein immer tiefer werdender Orgelton wie Tausende vorher. Es war nichts Neues, man sah und hörte schon gar nicht mehr hin. Man duckte sich. Und doch war es diesmal anders. Die Flammen waren um ihn, die Erde drückte ihn in sich, als habe sich eine Spalte gebildet und ihn eingeklemmt. Etwas Heißes jagte über sein Gesicht und nahm ihm den Atem.

Das Ende des Christian Oster. War es wichtig, daß der Körper noch lebte?

Oster schob seine Hände aus Susannes starren Fingern heraus. Er unterbrach seine Erinnerung, er schloß sie ab. Was nun noch geschehen war, war gespenstisch, war nicht mehr das Leben des Christian Oster. Sein Leben war in jener Sekunde erloschen, als um ihn die Erde aufriß und aufbrüllte wie der kleine Mensch, der auf ihr gelegen hatte.

«Es war ein schönes Leben«, sagte Oster zu Susanne und rückte die große Immortelle in ihren Fingern zurecht.

Dann lud er die Pistole durch, legte sich neben die Tote auf sein Bett und steckte den Lauf der Waffe in den Mund.

Niemand in der Nachbarschaft hörte den einzelnen Schuß. Man wunderte sich nur, daß am nächsten Morgen die Läden so lange geschlossen blieben.

Er schläft sich aus, dachte man. Er hat gestern wieder gesoffen.

Und außerdem war Sonntag.

Nach dem Morgenkaffee fuhren der Famulus Baumann und Erich Schwabe nach Würzburg.

Man hatte nicht mehr darüber gesprochen. Auch Dr. Mainetti und Professor Rusch verzichteten auf alle Aussprachen. Rusch hatte lediglich die Operation um wiederum zwei Tage verschoben.»Das ist das Äußerste, Lisa«, sagte er.»Wir können Schwabe nicht wie einen Ballon mit Morphium vollpumpen.«

Baumann war einfach mit dem alten Wehrmachtskübelwagen, den man dem Spezialkrankenhaus als >Dienstwagen< überlassen hatte, vorgefahren und hatte zu Schwabe gesagt:»Los, du Flasche, steig ein. Zufällig sind die Straßen eisfrei.«

Während der ganzen Fahrt sprach Erich Schwabe kein Wort. Aber je näher sie Würzburg kamen, um so unruhiger wurden seine Hände und schabten an der Tür auf und ab. Kurz vor dem großen Tor des Krankenhauses hielt Baumann den Kübelwagen an.

«Was ist?«fragte Schwabe.»Eine Panne?«

«Nee. Warte mal. «Baumann griff nach hinten unter den Hintersitz und holte einen Strauß blaßroter Alpenveilchen hervor.»Von der Frau Doktor«, sagte er.»Du sollst sie ihr von ihr geben.«

«Wem?«fragte Schwabe hart.

«Du Dussel, deiner Frau natürlich.«

Schwabe antwortete nicht. Er nahm den Alpenveilchenstrauß und warf ihn in hohem Bogen aus dem Wagen in die Haustrümmer.

«Nun fahr weiter«, sagte er heiser.»Oder ich laufe zu Fuß.«

Mit heulendem Motor raste Baumann der Klinik zu.»Darüber sprechen wir uns nachher«, brüllte er. Regungslos saß Schwabe neben ihm, undurchdringlich, mit zusammengekniffenen, farblosen Lippen.