Kapitel 19
Die Stationsschwester auf der Säuglingsstation sah Erich Schwabe kurz an, als sich die beiden Besucher bei ihr anmeldeten. Schwabe kniff die narbigen Lippen zusammen.»Ja, ich bin's«, sagte er rauh.»Gott sei Dank ist ein solches Gesicht nicht vererbbar.«
«Schnauze«, raunte ihm Baumann zu und stieß ihm die Faust in den Rücken.
«Sie können Ihre Tochter gern sehen. «Die Schwester sah auf einer Liste nach und legte den Zeigefinger auf den Namen Erika Schwabe, Bett 12.»Aber nur durch die Glasscheibe.«
«Warum das denn?«fragte Schwabe laut.
«Wegen der Infektionsgefahr.«
«Mein Gesicht habe ich im Krieg verloren, nicht durch Syphilis«, schrie Schwabe plötzlich. Die Schwester prallte zurück, Famulus Baumann machte hinter Schwabes Rücken verzweifelte Zeichen, um anzudeuten, daß der Besucher offenbar die Nerven verloren hatte.
«Alle Väter dürfen die Kinder nur durch das Fenster sehen. Später, nach den ersten Tagen, ist das anders. Ich kann auch bei Ihnen keine Ausnahme machen. «Die Schwester wandte sich zur Tür.»Wenn Sie bitte mitkommen möchten, Ihre Frau können Sie natürlich im Zimmer besuchen, ohne Glasscheibe.«
«Danke«, sagte Schwabe heiser vor Erregung.»Ich möchte nur das Kind sehen.«
Er sagte nicht mein Kind, sondern das Kind. Baumann bemerkte es sofort und hielt Schwabe am Arm fest, während die Schwester schon hinaus auf den langen Stationsgang trat.
«Erich, wenn du Theater machst«, sagte er leise,»ich schwöre es dir: Vor allen hier haue ich dir eine 'runter, daß du ein drittes Gesicht brauchst!«
«Schon gut. «Erich Schwabe senkte den Kopf. Über sein zerstörtes Gesicht zuckte es.»Wie schön habe ich mir das vorgestellt: Mein Kind ansehen — zum erstenmal, und nun.«
Die Schwester stand vor einer großen, vielfach geflickten und notdürftig wieder weißlackierten Tür und sah sich unsicher nach Schwabe um.»Haben Sie irgend etwas für das Kind mitgebracht?«fragte sie leise.
«Nein.«
Die Schwester zögerte, dann ging sie in die Kinderstation. Neben der geflickten Tür war ein breites, längliches Fenster in die Wand eingelassen. Baumann sah dahinter eine Reihe kleiner, weißer Betten und die hin und her huschende Haube einer anderen Schwester.
«Komm näher, Erich«, sagte er.»Hier ans Fenster. Sie zeigen es dir gleich.«
Schwabe kam ein paar Schritte heran und blieb zwei Meter vor dem Fenster stehen. Es war, als habe er Angst, noch weiter näherzutreten, als scheue er davor zurück, sein zerfetztes Gesicht zu eng an die Scheibe zu legen.
Wie in einem großen Bilderrahmen erschien die Schwester wieder im Fenster. Auf den Armen trug sie ein kleines, strampelndes Bündel. Ein runder, blonder Kopf, zusammengekniffene Augen und zu Fäusten geballte Fingerchen, rosig, zerbrechlich, mit kleinen Wülsten an den Gelenken, ein aufgerissener Mund und ganz fern, ganz gedämpft durch die Scheibe dringend, ein langgezogenes, helles Geschrei.
Die Schwester lächelte und hob das schreiende Bündel hoch gegen das Fenster.
Erich Schwabe stand wie aus Stein. Er starrte das Kind an, hatte den Kopf weit vorgebeugt, aber er kam keinen Schritt näher. Die Finger seiner rechten Hand krallten sich in den Arm Baumanns, so wie ein Erstickender sich in Todesangst festklammert. Er sagte kein Wort. Er starrte nur auf das zappelnde Bündel hinter der großen Scheibe, das die Schwester ihm entgegenhielt.
«Na«, sagte Baumann leise,»sieht es dir nicht ähnlich? Sogar den Hals reißt es auf wie du.«
Schwabe antwortete nicht. Wie ein müder Bär tappte er die beiden Schritte bis zum Fenster vor und preßte das zerstörte Gesicht gegen das Glas. Ganz nahe war er jetzt dem Kind, nur getrennt durch drei Millimeter dickes Glas. Zögernd hob er die Hand und streichelte mit zitternden Fingern über das Fenster, rund um den pendelnden Kopf des Kindes über dieses schreiende Gesicht. Die Schwester hielt es ganz dicht an die Scheibe, und der Atem ließ das Glas beschlagen, und über diesen Nebel sah Erich Schwabe zwei große, runde, blaue Augen.
Lautlos rannen aus seinen Augenwinkeln die Tränen über die Falten und Narben. Immer wieder streichelte er mit ergreifender Zärtlichkeit die Scheibe, bis die Schwester das Kind in das Zimmer mit den vielen weißen, kleinen Betten zurücktrug. Schwabe starrte weiter durch das Fenster, er sah, wie man sein Kind flach hinlegte, wie eine weiß bezogene Decke über den winzigen Körper gebreitet wurde, wie ein großes Gazetuch als Schutz gegen Zugluft und Staub über das Bett gespannt wurde.
Famulus Baumann legte die Hand auf Schwabes Schulter.
«Na, du Idiot«, sagte er leise,»kommst du jetzt endlich zur Vernunft?«
Schwabes Kopf zuckte von dem Fenster zurück, als habe man ihn in den Nacken geschlagen. Er steckte die Fäuste in die Taschen des Mantels und zog das Kinn an.
«Komm«, sagte er laut.
«Wohin?«
«Nach Haus.«
«Ein Stockwerk tiefer liegt Ursula. Sie — sie weiß, daß du heute hier bist. Dr. Mainetti hat es ihr sagen lassen.«
«Wir gehen«, sagte Schwabe trotzig.
«Mein Gott, ein solches Kind hat dir deine Frau geschenkt, und du sturer Hund willst nicht einmal.«
Erich Schwabe wandte sich ab und tappte den langen Gang hinunter. Er stieg die Treppen hinab, ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ die Klinik mit gesenktem Kopf und setzte sich in den alten Kübelwagen, den Kragen hochgeschlagen und die alte Wehrmachtswintermütze über die schartigen Ohren gezogen. Baumann kam nach fünf Minuten hinterher. Er war blaß und zog Schwabe mit einem Ruck vom Sitz des Wagens.
«Sie weint«, sagte er rauh.»Keiner hat sie besucht, seit sie das Kind geboren hat. Niemand kümmert sich um sie. Auch deine Mutter nicht. Man sollte euch Schwabes mit den Köpfen gegeneinander schlagen!«
Schwabe antwortete nichts. Er stand im Schnee, sein zerstörtes Gesicht war weiß, mit violetten Kälteflecken durchsetzt.
«Habt ihr denn kein Herz?«schrie Baumann und schüttelte Schwabe.
«Sie hat es verraten.«
«Wenn ich so etwas höre. «Baumann drückte Schwabe gegen den Kotflügel des Kübelwagens.»Nun hör einmal zu, mein Junge: Du warst in Polen.«
«Ja«, sagte Schwabe rauh.
«Und in Frankreich, in Griechenland, auf dem Balkan und zuletzt in Rußland. Und in all diesen Jahren hat deine Ursula treu zu Hause gesessen und darauf gewartet, daß du zwei Wochen im Jahr mal auf Urlaub kommst. Und du? Na, Kumpel, wie ist's? War da nicht was in Griechenland? Und in Jugoslawien? Und wie war's an der Atlantikküste? Oder war der Feldwebel Schwabe der einzige Soldat der deutschen Wehrmacht, der sich wirklich nur für sein Gewehr interessiert hat und sonst für nichts? Na, wie ist das?«
Erich Schwabe atmete ein paarmal tief.»Laß mich in Ruh'«, sagte er dann.
«Du gehst jetzt hinauf zu deiner Ursula und dankst ihr dafür, daß sie dir ein solches Kind geschenkt hat.«
«Nein.«
Baumann faßte Schwabe an den Mantelaufschlägen.»Erich«, sagte er leise,»wenn du jetzt nicht einsiehst, daß es eine Schweinerei ist, was du tust, bist du für mich Luft. Und für alle anderen auf Schloß Bernegg, dafür werde ich sorgen.«
Schwabe nickte.»Gut«, sagte er mit heiserer, stockender Stimme.»Dann bin ich Luft. Ich brauche euch nicht, um weiterzuleben. Ich will nur meine Ruhe haben und nichts mehr von den Menschen wissen.«
«Aber dieses Kind da ist auch ein Mensch«, schrie Baumann und warf Schwabe gegen den Kübelwagen wie einen schweren Sack.
«Darum habe ich auch Abschied von ihm genommen.«
«Abschied?«stammelte Baumann ungläubig.»Von deinem Kind?«
«Fahr schon«, brüllte Schwabe plötzlich und packte Baumann mit ungeahnter Kraft und hob ihn wie eine Puppe in den offenen Wagen hinter das Steuer.»Was geht dich das alles an? Was kümmert ihr euch alle um mein Privatleben? Macht mir ein vernünftiges Gesicht! Mehr geht euch der Erich Schwabe gar nicht an!«