Professor Dr. Rusch hatte selbst mit Frau Hedwig Schwabe und Ursula gesprochen. Nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus hatte sich Frau Schwabe ihrer Schwiegertochter wieder angenommen, nicht aus verzeihender Liebe, sondern aus dem Gefühl des Mitleids heraus. Sechsmal hatte sie versucht, Erich Schwabe zu besuchen und zu sprechen, und jedesmal war sie abgewiesen worden. Die Briefe und die vom Mund abgesparten Eßpakete kamen ungeöffnet zurück.
«Es hat keinen Zweck, er steckt in einer seelischen Krise, die nur noch schlimmer wird, wenn man sie mit Gewalt, und sei es die Gewalt der Liebe, zu lösen sucht. Er wird von allein aus seiner Isolation herausfinden. «Das war ein schwacher Trost, den Dr. Mainet-ti geben konnte. Aber sie riet auch gleichzeitig, niemals in eine Schei-dung einzuwilligen. Auch Professor Rusch war der Ansicht und überbrachte Schwabe selbst die Antwort seiner Frau.
«Da können Sie gar nichts machen, Schwabe«, sagte er, den Brief erklärend, den er selbst aufgesetzt hatte und den Ursula nur abgeschrieben hatte.»Ihre Frau lehnt eine Scheidung ab. Sie selbst können keinerlei Gründe angeben, die ein Gericht anerkennen würde, das wissen Sie. Mißtrauen allein genügt nicht!«
Schwabe las den Brief Ursulas mit ihrer strikten Weigerung. Er hob die Schultern und gab das Schreiben an Professor Rusch zurück.
«Auch gut«, sagte er gleichgültig.»Den Brief hat Frau Doktor gut geschrieben.«
«Irrtum. «Rusch faltete den Brief zusammen.»Ich habe ihn aufgesetzt.«
Schwabe wandte sich ab und klappte ein Buch auf. Es war sein einziger Schutz — die Flucht in die Phantasie. Um ihn herum war alles Persönliche gestorben. Er war ein fast anonymer Patient. Dr. Mainetti und Professor Rusch operierten ihn in gewissen Abständen, je nachdem die Eingriffe verheilten und neue Gesichtspartien aufgebaut werden konnten. Sie sprachen dabei nicht mehr wie früher ein persönliches Wort mit ihm. Stumm kletterte Schwabe auf den Operationstisch, bekam seine Narkose und wurde operiert. Famulus Baumann kam nicht mehr Skat spielen, kein Witz machte mehr die Runde durch den Block B, der einzige, der noch zu Schwabe fand, war Walter Hertz mit seiner neuen Rachephilosophie, die in dem Satz gipfelte:»Wir sind dazu geboren worden, die Menschen durch Ekel von ihrer Dummheit zu heilen.«
Die geschwulstartigen Verwachsungen in der Nase Schwabes stellten sich als nicht bösartig heraus. Vier Tage warteten Rusch und Lisa auf den histologischen Befund aus Würzburg, und als er eintraf, atmeten sie erleichtert auf. Es war eine an sich harmlose Wucherung des transplantierten Knochenstücks gewesen, dessen Auswirkung auf die Nerven allerdings äußerst gefährlich werden konnte.
Zwei Stunden dauerte die Operation, die Schwabe seine dritte Nase geben sollte. Als er aus der Narkose erwachte, lag er, wie damals Ur-sula in Würzburg, allein auf dem Zimmer in seinem Bett. Walter Hertz half in der Küche, Baumann, der sonst am Bett gesessen und das Aufwachen und die stummen Fragen mit einigen dummen Bemerkungen zur Seite geschoben hatte, war nach Bernegg gefahren, um sich mit der Kleiderkarte ein Hemd zu kaufen. Wie ein Aussätziger lag Schwabe in dem stillen, großen Zimmer, den dicken Verband über dem Gesicht und die unbeantwortete Frage wie eine Zentnerlast auf dem Herzen: Ist die Operation diesmal gelungen?
In Bernegg hatten sich Frau Hedwig Schwabe und Ursula eine Zweizimmer-Wohnung gemietet. Dr. Mainetti hatte sie durch den Bürgermeister besorgen lassen, nachdem das Wohnungsamt in guter, deutscher Art gesagt hatte:»Eine Wohnung? Wo denken Sie hin. Vierhundertachtzig Antragsteller sind vor Ihnen dran. Und dann noch ortsfremd? Gehen Sie doch nach Köln zurück, die sind da zuständig für Sie.«
Der Bürgermeister fand schließlich zwei Zimmer, unter dem Dach der Schule, wo man früher alte Karten und ausrangierte Schulbänke aufbewahrt hatte. Als Gegenleistung statt der Miete putzte Frau Schwabe die Schulklassen. Außerdem legte sie einen Schulgarten an, und man versprach ihr, sie dürfte von der kommenden Ernte die Hälfte behalten.
In ihrem Dachzimmer hatte sich Ursula eine winzige Schneiderwerkstatt eingerichtet. Sie hatte vor ihrer Ehe mit Erich Schwabe in einer Schneiderei gelernt, und es reichte aus, um alte Wehrmachtsmäntel in flotte Ulster umzunähen, Jacken zu wenden oder aus gefärbten Decken und Katzenfellen modische Wintermäntel zu nähen. Auch hierbei hatte ihr Dr. Mainetti geholfen. In dem Geräteschuppen, in dem noch immer >Berneggs Geheimwaffe<, das uralte Auto Fritz Adams, verrostete, fand man eine fast neue Nähmaschine, die von den amerikanischen Soldaten irgendwo mitgenommen worden war. Wozu, das wußte niemand mehr, denn nie hatte jemand einen der US-Soldaten an der Nähmaschine gesehen. Vielleicht war es auch nur ein ausgefallenes und dann wegen der Größe zurückgelassenes >Souvenir from Germany<.
Nachdem der Bürgermeister von Bernegg die Nähmaschine vierzehn Tage lang auf dem Schwarzen Brett dem Besitzer zur Rückgabe angeboten und sich niemand gemeldet hatte, durfte Ursula die Maschine zunächst leihweise auf ihr Zimmer nehmen.
So fing die Tätigkeit im >Atelier Schwabe< an, wie Professor Rusch Ursulas nächtliche Arbeit nannte. Erst, wenn die kleine Erika in Omas Zimmer fest schlief, setzte sich Uschi an die Nähmaschine, und das rhythmische Rattern klang die ganze Nacht hindurch bis in den frühen Morgen. Dann schlief Ursula ein paar Stunden, Frau Schwabe kochte die erste Milch für Erika und weckte dann ihre Schwiegertochter, denn es war Zeit, daß sie die Klassen ausfegte und die Räume in Ordnung brachte, bis um 8 Uhr die Kinder kamen.
Mit der Zeit spielte sich alles gut ein. Sogar aus Würzburg kamen Frauen nach Bernegg zu Ursula und brachten alte Kleider und neue, getauschte Stoffe. Es sprach sich herum, daß die kleine blonde Frau fleißig und gut arbeitete und weniger Lohn nahm als ihre Kolleginnen in der Stadt. Für einen halben Liter Öl nähte sie ein neues Kleid, und die Umänderung einer Wehrmachtsjacke in ein grünes Jägerjackett kostete zehn Pfund Kartoffeln und ein halbes Pfund Speck. Das zusätzliche Bargeld zählte nicht. Was war es denn noch wert? Wenn eine amerikanische Zigarette 6 Mark kostete und ein Pfund Butter 400 Mark. Was sind da 100 Mark für ein schickes Kostüm aus weichen holländischen Flauschdecken?
Im Juli bekam sie eine neue Kundin. Lisa Mainetti brachte ihr einen dunkelblauen Kostümstoff, ein Vorkriegsstoff, der in all den Jahren im Schrank Lisas gelegen hatte und auf die Gelegenheit gewartet hatte, die jetzt bevorstand.
«Für das Standesamt«, sagte Dr. Mainetti.»Wenigstens an diesem Tage will ich etwas Neues anziehen.«
Ursula nahm Maß, aber so sehr Lisa darauf wartete — Ursula fragte nicht nach Erich. Er arbeitete unterdessen im Garten, schnitt die großen Rasenflächen, pflegte die Blumenrabatten und hatte vor allem einen Gemüsegarten angelegt, der die Spezialklinik von den unzureichenden Lebensmittelzuteilungen unabhängig machen sollte.
Noch 64 Gesichtsverletzte waren auf dem Schloß. Block A und C waren geräumt und umgestaltet worden. Die Krankenzimmer und Säle waren zu Wohnräumen geworden, in denen man die endlosen Flüchtlingskolonnen unterbrachte, die aus Ostdeutschland und der Tschechoslowakei nach dem Westen strömten. Die ausgewiesenen Familien wohnten einige Wochen in den Schloßgebäuden, bis sie weitergeleitet wurden, in die ländlichen Gebiete Unter- und Oberfrankens, in Barackenlager und Privatzimmer, die manchmal mit Gewalt beschlagnahmt wurden.
Zu den ständigen Insassen des Blocks B kamen die Ambulanten. Sie reisten von allen Ecken Westdeutschlands heran und ließen sich nachoperieren. Viele Bekannte aus den Kriegstagen kehrten für Wochen nach Bernegg zurück, auch Fritz Adam, der Medizinstudent, dessen püppchenhafte Frau Irene ihn wegen Dr. Fred Urban verlassen hatte.
Ohne Anmeldung war er plötzlich auf dem Schloß, und Baumann fiel ihm um den Hals wie einem zurückgekehrten Bruder. Dora Graff, die kleine Rotkreuzschwester, war mitgekommen. Sie hieß jetzt Dora Adam, und das Glück strahlte froh aus ihren Augen.