«Kinder«, sagte Dr. Mainetti und legte die Arme um die Schultern der beiden.»Ich freue mich so, daß ihr beide es geschafft habt!«
Fritz Adam studierte wieder Medizin in Heidelberg. Es war die erste Universität, die wieder voll arbeitete. Schon am 15. August 1945 hatte die medizinische Fakultät die Arbeit aufgenommen, und seit dem 7. Januar 1946 war die Universität mit allen Fakultäten wieder eröffnet. Dora Adam arbeitete in der Medizinischen Klinik als Oberschwester und verdiente den gesamten Unterhalt der jungen Ehe. Die Scheidung von seiner ersten Frau Irene war nur eine Formsache gewesen. Das Gericht, das darüber zu entscheiden hatte, schloß die Verhandlung nach wenigen Minuten, als Irene unbefangen sagte:»Es ist mir unmöglich, mit einem Mann ohne Gesicht zusammenzuleben. Dazu bin ich noch zu jung. «Der wahre Scheidungsgrund war allerdings die Sache mit Dr. Urban gewesen, die Irene ebenso unbefangen zugab.
Nach der Verhandlung drückte der Vorsitzende fast provokatorisch Fritz Adam die Hand und sagte:
«Ich gratuliere Ihnen, die haben Sie los.«
«Wie geht es den anderen?«fragte Fritz Adam, als sie jetzt in Dr. Mainettis Zimmer saßen und ein Stück trockenen Hefekuchen aßen.
«Von dem Berliner weiß ich, daß er im Harz ist und das halbe Dorf schon >'ne Molle< sagen kann. Der Wastl beackert seinen Hof wieder und hat mir dreimal ein Freßpaket geschickt und Oster… na, Sie haben das ja gehört.«
«Von Oster?«Professor Rusch erinnerte sich sofort an ihn. Christian Oster, der als einziger unter den Gesichtsverletzten von Schloß Bernegg mit einem neuen Gesicht entlassen worden war. Drei Jahre hatte man an ihm aufgebaut, was nur möglich war. Die vielen kleinen Eingriffe waren gar nicht mehr zu zählen.»Was ist mit Oster?«
Adam warf einen raschen Blick hinüber zu seiner Frau.»Oster — Oster ist tot.«
«Tot?«Rusch riß erstaunt die Augen auf.»Wie kam denn das? Er war doch kerngesund.«
«Sie haben es nicht gelesen?«
«Gelesen?«Dr. Mainetti hatte ein ungutes Gefühl.»Ist etwas geschehen mit Oster?«
«Er hat erst seine Frau und dann sich selbst getötet.«
Professor Rusch setzte die Tasse, aus der er gerade dünnen Bohnenkaffee trank, hart auf den Tisch.»Aber er war doch am besten dran von allen!«
Fritz Adam hob die Schultern.»Trotzdem. Seine Frau, die sich mit diesem fremden Gesicht nicht abfinden konnte, die Umwelt, die Oster mit triefendem Mitleid überschüttete, das Saufen, bei dem er Zuflucht suchte — es muß für ihn eine unbeschreibliche Hölle gewesen sein. Und dann kam der Kurzschluß. «Adam sah Rusch und Lisa an, die starr auf ihren Stühlen saßen.»Ich dachte, Sie wüßten es. Man hatte mir eine Nachricht geschickt, weil man unter Osters Post auch Briefe von mir fand. Ich bin zum Begräbnis gefahren. Die Nachbarn Osters standen stumm um das Doppelgrab und starrten mich an, als müßte ich der nächste sein. Es war furchtbar. Und der Pfarrer sagte: >Er zerbrach an seinem Schicksal.. Das war falsch. Christian Oster zerbrach an seiner Umwelt, die ihn nicht mehr aufnahm.«
Professor Rusch sah auf seine Hände und bewegte die Finger, als spiele er auf unsichtbaren Tasten.»Da gibt man einem Menschen wieder ein Gesicht«, sagte er leise,»man operiert ihn drei Jahre lang, mit unendlicher Geduld, Millimeter um Millimeter holt man ihn zu den Menschen zurück — und dann kommen sie her und treiben ihn in die Verzweiflung, aus Dummheit, aus Borniertheit, aus Seelenkälte, aus Gleichgültigkeit. Verdammt, es ist zum Kotzen. «Er sprang erregt auf und lief in dem großen Chefzimmer hin und her.»In diesem Augenblick könnte ich lernen, die Menschen zu hassen wie Schwabe«, rief er laut. Fritz Adam und seine Frau Dora zuckten fast gleichzeitig zusammen.
«Was ist mit Erich?«Adam wandte sich an Dr. Mainetti.»Ich habe seit Monaten keine Nachricht von ihm. Meine Karten kamen als >unzustellbar< zurück. Wir alle haben ihn damals um seine Frau und seine Mutter beneidet. Als wir, wie man so sagt, auf der Schnauze lagen, hat er uns mit seinem verteufelten Glauben an die Zukunft aufgerichtet. Das ist doch nicht möglich, daß der Erich jetzt.«
«Er ist hier.«
«Hier?«Dora Adam sprang auf.»Im Schloß?«
«Ja. Als Gärtner. Und Walter Hertz ist auch hier.«
«Der Walter auch?«Adams Stimme war leise, sie schwankte.»Was ist denn mit seiner Petra? Sie hatte ihn doch selbst von Braddock abgeholt.«
«Es ist wie bei Oster. Die Umwelt stößt ihn zurück. Ein Mensch ohne Gesicht ist den Gesunden ein Greuel. «Dr. Mainettis Stimme war voller Bitterkeit.»Hertz und Schwabe kamen zu uns zurück, weil sie noch soviel Lebensmut hatten, nicht das zu tun, was Oster tat. Aber wie es weitergehen soll — ich weiß es nicht. «Lisa hob die Arme und ließ sie hilflos sinken.»Manchmal kommen sie mir vor wie aus dem Nest gefallene junge Vögel, die keiner ihrer Art mehr annimmt, wenn eine fremde Hand sie berührt hat.«
«Kann ich mit Walter und Erich sprechen?«fragte Adam und sprang auf.
«Natürlich. «Rusch stand am Fenster und blickte hinaus in den schon wieder vor Hitze flimmernden Park.»Aber es wird wenig Sinn haben. Sehen Sie, da sind sie, die beiden siamesischen Zwillinge.«
Adam und Dora traten ans Fenster. Unter den Bäumen am Teich kehrten Schwabe und Hertz mit großen Reisigbesen, die sie selbst hergestellt hatten, die Wege von Blättern sauber. Beider Gesichter waren wieder mit Leukoplast verklebt, so als läge kein Jahr zwischen dem Abschied auf dem Bahnhof von Würzburg und heute. Sogar die alten Drillichanzüge trugen sie. Das POW der Amerikaner hatte man zu entfernen versucht. Da es zu fest in den Stoff eingesogen war, hatte man Drillichlappen darüber genäht. Nun sah es aus, als hätten sie im Rücken ein aufklappbares Fenster.
Fritz Adam trat wieder in den Raum zurück. Sein verschmortes, verbranntes Gesicht zuckte. Dora hielt seine rechte Hand fest, und Lisa bemerkte, wie sie sie heimlich und beruhigend drückte.
«Wir würden, wenn es geht, Herr Professor, einige Wochen hierbleiben, Dora und ich. Wir haben uns Urlaub genommen und etwas erspart, um diese Zeit zu überbrücken. Ich möchte, daß Sie mir eine Reihe der Narben auftrennen und das linke Ohr formen. Aber nur, wenn es geht.«
Rusch nickte.»Die Narben, sicherlich. Aber mit dem Ohr, Adam. Sie wissen, daß der Mensch nicht so viel Knorpel besitzt, daß wir ein neues Ohr aufbauen können. Aus Amerika hört man jetzt viel von Kunststoffohren, die man einsetzen kann. Aber bis zu uns ist noch nichts gedrungen. Wir müssen noch nach den altbewährten Methoden arbeiten. Als Mediziner wissen Sie, wieviel Knorpel man zum Aufbau einer Ohrmuschel braucht. Woher nehmen?«
«Schnippeln Sie an mir herum, so gut es geht. «Fritz Adam warf wieder einen Blick auf die beiden arbeitenden Männer im Park.»Vielleicht gelingt es mir und Dora, die beiden Einsiedler umzustimmen.«
Dr. Mainetti hob die Schultern.»Es wäre alles kein Problem, wenn sie einen äußeren Halt hätten.«
«Ja, Hertz kann ich noch verstehen. Aber Schwabe? Er hat doch eine liebe, hübsche Frau, und auch das Kind ist doch da.«
Dr. Mainetti sah Adam stumm an.
«Ach so«, sagte er und senkte den Kopf. Er verstand plötzlich.»So ist das.«
«Schwabe braucht Zeit — aber ob er sie durchhält?«
«Ich werde mit ihm sprechen. «Fritz Adam faßte Dora unter.»Und den Wastl, den Berliner und den Bloch hole ich auch hierher. Schließlich war ich der Stubenälteste. Und hier geht es nicht um den einzelnen, sondern es ist unser aller Problem. Wir haben versprochen, uns gegenseitig zu helfen. Bei Oster haben wir versagt — wir wußten ja von nichts. Aber hier können wir helfen, ehe es völlig zu spät ist.«
Drei Tage später traf der Wastl Feininger in Bernegg ein. Keuchend trabte er den Schloßberg hinauf und schleppte einen dicken Rucksack auf seinen breiten Schultern. Sein Gesicht hatte sich etwas verändert, und die Narben der transplantierten Hautlappen lagen auf der Haut wie kleine, runde, pralle Weißwürste. An dem großen Rol-lappen, mit dem er entlassen worden war, hatte niemand etwas verändert. Er wabbelte noch immer an seiner Gesichtsseite; wie ein Henkel sah er aus, an dem man den Kopf in die Höhe heben konnte.