«Aber — aber es ist doch unmöglich«, stammelte er.
«Warum?«
«Ich bin ein Scheusal.«»Du bist mein Mann.«
«Man wird dir keine Ruhe lassen. Alle Leute werden zu dir sagen: Sie müssen wahnsinnig sein, mit einer solchen Fratze zusammenzuleben.«
«Und ich werde antworten: Ich sehe sein Gesicht gar nicht, ich sehe nur ihn. Was ist ein Gesicht? Eine lebende Maske. Soll ich eine Maske heiraten? Wird eine Symphonie von Beethoven häßlicher, wenn man sie in einer Scheune statt in einem prunkvollen Konzertsaal spielt? Ist ein Leonardo da Vinci in einem zerbrochenen Holzrahmen weniger schön als in einer goldenen Barockverzierung? Ich liebe dich, weil du einfach du bist — so einfach ist das doch, nicht wahr?«
«Aber dein Vater. Und deine Mutter. >Sie haben keine Zukunft, junger Mann<, hat dein Vater gesagt. >Und ein Mann ohne Zukunft ist doch wohl kein Mann für meine einzige Tochter.< Und deine Mutter sagte hinterher: >Sie müssen verstehen, ich bin Pianistin, ich bin Ästhetin, es wäre mir unerträglich, immer jemanden um mich zu haben — Sie verstehen mich.<«Walter Hertz atmete tief.»Und ich habe verstanden«, schrie er wieder.»Es ist kein Platz auf der Welt für einen Gesichtskrüppel. Man verletzt die Ästhetik.«
Petra schüttelte stumm den Kopf. Sie kam auf Walter Hertz zu, ergriff seine schlaffe Hand und zog ihn zu sich her.
«Komm«, sagte sie, so nüchtern und selbstverständlich, daß Hertz wie ein folgsamer Junge ein paar Schritte bis zur Tür mitging. Aber dann blieb er plötzlich stehen.
«Nein«, sagte er laut.»Wohin denn?«
«Zu mir.«
«Das ist doch alles Unsinn! Was soll denn aus mir werden?«
«Wieder ein Mensch, Walter.«
«Sie werden mich alle wegstoßen.«
«Keiner wird das tun.«
«Sie haben es ja getan.«
«Nur meine Eltern. Das ist ein Teil unseres Lebens, den wir vergessen müssen, du und ich. Was gehen uns die anderen an? Es ist genug, wenn die Welt nur aus uns besteht. Was um uns herum ist — sehen wir es als Kulisse an. Wie einfach ist dann das Leben.«
Eine halbe Stunde später stand Walter Hertz im Zimmer Dr. Lisa Mainettis. Er hatte seine wenigen Sachen gepackt. Famulus Baumann hatte ihm dafür einen Karton gegeben, einen amerikanischen Verpflegungskarton, auf dem groß >Eggs< stand.
«Schreiben Sie uns oft«, sagte Dr. Mainetti und drückte Walter Hertz die Hände.»Professor Rusch läßt Ihnen alles Gute wünschen. Er operiert gerade.«
Hertz nickte. Seine Mundwinkel zuckten.»Frau Doktor«, stotterte er.»Frau Doktor — nun ist es schon der zweite Abschied. Ich werde Sie nie, nie vergessen.«
«Und zurückkommen wird er auch nicht wieder, das verspreche ich«, sagte Petra und legte den Arm um seine Schulter.»Nur als Patient oder Freund — aber nicht mehr wie bisher.«
Als Adam und Erich Schwabe aus dem Park zurückkamen auf Zimmer B/14, war das Bett von Walter Hertz abgedeckt, und eine Schwester stellte die Matratze hoch ans Fenster zum Lüften.
«Was soll denn das?«fragte Schwabe und stieß Adam in die Seite.»Ist der Walter Bettnässer geworden?«
«Herr Hertz ist entlassen«, sagte die Schwester. Sie kannte die Zusammenhänge nicht. Erich Schwabe blieb starr stehen.
«Entlassen? Was heißt denn das? Man kann doch den Hertz nicht entlassen. Da ist doch etwas faul.«
«Er ist abgeholt worden«, sagte die Schwester, nahm die Bettwäsche zusammen und verließ das Zimmer.
Erich Schwabe sah zu Fritz Adam hinüber, der ebenso verblüfft war wie er.
«Abgeholt?«sagte Schwabe leise.»Mein Gott, Fritz, den Fachausdruck kenne ich. Der wird doch wohl keinen Quatsch gemacht haben, der Walter? In letzter Zeit hat er immer so dusselig geredet, Himmel noch mal.«
Schwabe drehte sich um und rannte aus dem Zimmer.
«Wohin denn?«schrie Adam über den Flur.
«Zu Dr. Mainetti.«
«Ich komme mit.«
Zu zweit rannten sie die Treppe hinunter und stürzten, ohne anzuklopfen, in Lisas Zimmer. Dr. Mainetti saß am Schreibtisch und füllte einen Krankenbogen aus. Sie war nicht erstaunt, die beiden erhitzten, fragenden Gesichter zu sehen. Freundlich nickte sie ihnen zu.
«Walter Hertz?«sagte sie, ehe Adam oder Schwabe etwas fragen konnten.»Den hat eben seine Braut abgeholt und mitgenommen. Sie werden nächsten Monat heiraten.«
Erich Schwabe war es, als sei er mit Eiswasser überschüttet worden. Er schüttelte sich sogar, als müsse er die Tropfen von sich abschleudern. Dann senkte er den Kopf, drehte sich herum und sagte im Hinausgehen:
«Sie haben alle keinen Charakter, alle nicht. Alle nicht!«
Die Monate gingen dahin, das Leben normalisierte sich, es bildeten sich wieder Klassen: die einen, die nach wie vor anstanden, um eine Sonderzuteilung von irgend etwas zu erhaschen, die anderen, die sich plötzlich Häuser bauten und sich die Butter fingerdick aufs Brot schmierten. Der Beamtenapparat, das Knochengerüst jeglicher deutschen Gesundung, wurde wieder merkbar kerniger und härter. Parteien wurden gegründet und versprachen Dinge, die von jeher in Deutschland kaum möglich waren, wie etwa eine richtige Demokratie oder eine Ächtung aller Waffen und jeglichen Wehrgedankens. Ja sogar die Siegermächte wurden freundlich und betrachteten Old Germany nicht mehr als einen fauligen Termitenhaufen, sondern dachten: Es ist gut, wenn wir allesamt einmal scharf nach Osten blik-ken. Von dort scheint ein rauhes Lüfterl heranzuwehen, in dem die schöne Waffenbrüderschaft verrostet.
Aber noch immer zahlte man für eine Camel 6 Mark und ein Pfund Kaffee war auf 600 Mark geklettert. Die erste Vollversammlung der Vereinten Nationen war längst in London abgehalten worden, und das erste Njet des sowjetischen Delegierten hatte eine neue Ära der
Politik in der Welt eröffnet. Und noch vieles geschah in diesen Monaten, was nicht die Gemüter erregte, sondern nur in einer ganz kleinen Welt zwischen hohen Mauern Bedeutung hatte: Im September heirateten Professor Dr. Rusch und Dr. Lisa Mainetti auf dem Standesamt in Bernegg, und Erich Schwabe als Schloßgärtner schmückte den Gemeinschaftssaal mit Blumen aus, in glühenden Farben und wunderbar gebundenen Arrangements. Famulus Baumann sprach das aus, was die Insassen der Klinik alle dachten:»Es ist schwer, sich jetzt umzugewöhnen. Für uns bleiben Sie immer die Lisa Mainet-ti.«
Fritz Adam machte in Heidelberg sein Physikum. Kaspar Bloch schrieb aus England, er studierte in Oxford. Walter Hertz berichtete knapp:»Petra bekommt ein Kind. «Und der Wastl schrieb mit ungelenken Buchstaben:»Ich habe eine Fremdenpension. Alle von Stube 14 können frei bei mir wohnen.«
Der einzige, der aus der Reihe brach, war der Berliner. Er hatte sich als Conferencier einem Kabarett angeschlossen.»Kinder«, schrieb er in einem langen Brief,»das ist 'ne Wolke. Wenn ich mit meiner schiefen Fresse Witze mache — das Publikum bepinkelt sich vor Lachen.«
Lisa zeigte den Brief ihrem Mann, und Professor Rusch hob resignierend die Schultern.»Auch das muß es geben«, sagte er.»Ein zerstörtes Gesicht als Maske eines Clowns. Und die Leute lachen sogar darüber. Das ist das Schrecklichste an der Sache. Sind wir schon wieder so weit, Lisa, daß wir den Krieg als lustige Erinnerung empfinden?«
In Bernegg hatten Frau Schwabe und Ursula eine größere Wohnung bekommen. Die Nähkünste Ursulas öffneten ihnen alle Wege und Umwege, und gegen Herausgabe von zwei großen Steintöpfen eingeschmolzenen Fetts, fünf Einmachgläsern mit Rindfleisch und 5.000 Mark konnte die Familie Schwabe in eine schöne Vier-ZimmerWohnung ziehen, am Stadtrand von Bernegg, mit einem schönen, weiten Garten und einem Blick auf das Schloß. Das Haus gehörte einer Witwe, deren Bruder beim Wohnungsamt es bisher erreicht hatte, eine Beschlagnahme zu verhindern mit der Begründung, zwei Söhne seien vermißt und könnten jederzeit wiederkommen. Das Angebot Frau Hedwig Schwabes aber erschütterte alle Schutzwälle, um so mehr, als bei dem regen Publikumsverkehr im Schneideratelier auch wichtige Verbindungen geknüpft werden konnten. Wer in diesen Monaten ohne Beziehungen weiterleben konnte, mußte ein Zauber- oder Hungerkünstler sein.