«Fragen stellen wir, Herr Professor«, antwortete der Vorsitzende der Entnazifizierungskammer steif.»Im übrigen tut dies nichts zur Sache. «Er blätterte in dem Aktenstück.»Sie bestreiten diese Ihnen zur Last gelegte Handlung?«
«Bestreiten? Ich lache darüber.«
«Das ist wohl nicht der richtige Weg der Wahrheitsfindung. «Der Vorsitzende sah Rusch ernst an.»Sie waren PG?«
«Nein.«
«Warum nicht?«
«Aus dem gleichen Grunde, aus dem auch Sie nicht PG gewesen sind.«
«Das ist keine Antwort.«
«Aber eine Feststellung.«
Der Vorsitzende blätterte wieder in den Akten.»Wie wir wissen, standen Sie sogar unter dem Verdacht, maßgeblich am Euthanasieprogramm beteiligt gewesen zu sein.«
«Aber meine Herren, das ist doch längst geklärt«, rief Rusch.»Nicht ich — ein mir bekannter Namensvetter. Die Amerikaner haben das bereits vor einem Jahr.«
Der Vorsitzende hob die Hand.»Ja, wir wissen das. Sonst stünden Sie ja auch nicht hier, sondern vor dem Strafrichter. Aber.«
«Es ist lächerlich, dieses ganze Affentheater«, unterbrach ihn Rusch grob.»Entscheiden Sie, wie Sie wollen. Ich werde mir meine künftigen Schritte vorbehalten. Für mich können über 500 Gesichtsverletzte aussagen.«
«Sicherlich«, sagte einer der Beisitzer. Er war dick und gut genährt und trug zur Feier des Tages einen silbergrauen Schlips.»Aber sagen Sie mal, sind diese Gesichtsverletzten nicht einzuordnen in die Gruppe der Kopfverletzten? Und sind nicht die meisten Kopfverletzten ein bißchen plemplem?«
Rusch starrte den Sprecher an, als habe dieser ihn in hohem Bogen angespuckt. Dann wandte er den Blick zu dem Vorsitzenden und sah, daß dieser durchaus nicht empört war, sondern offensichtlich eine Antwort erwartete.
«Guten Tag, meine Herren«, sagte Rusch steif.»Ich kann meine Zeit, die meinen Verletzten gehört, nicht für dummdreiste Hirne opfern.«
Der Vorsitzende sprang auf, als Rusch sich umdrehte und aus dem Zimmer gehen wollte.
«Sie können doch nicht einfach die Spruchkammer verlassen«, rief er.
«Sie sehen, ich kann es. Und ich weigere mich sogar, vor diesem Gremium auch nur noch eine einzige Aussage zu machen.«
«Unerhört«, rief der Vorsitzende. Er wartete, bis Rusch hinter sich die Tür zugeworfen hatte, und sah dann hinüber zu Lisa Rusch, Baumann, Schwabe und den Zuhörern.»Die Kammer wird unter diesen Umständen in Abwesenheit des Geladenen beschließen müssen«, sagte er laut.
Der Mann mit dem Silberschlips schüttelte den Kopf.»Die sind alle gleich, die hohen Tiere. Der Rusch ist wie der Sauerbruch. Der soll in Berlin auch einfach die Spruchkammer verlassen und noch was ganz anderes gesagt haben. Die haben alle 'n großen Tick.«
Eine halbe Stunde lang verhandelte Dr. Lisa Rusch dann für ihren Mann.
«Ihr Gatte hatte bei seiner überragenden Intelligenz wie kein anderer die Möglichkeit zu übersehen, welchem verbrecherischen Regime er diente«, sagte der Vorsitzende.»Und er diente ihm trotz dieser Erkenntnis.«
«Er half den Gesichtsverletzten. Er schuf ihnen neue Gesichter, er holte sie zum Leben zurück. Er war nur Arzt — ist es eine Schuld,
Hunderten zu helfen?«
«Wir erkennen das ja auch an, was wollen Sie denn?«Der Vorsitzende klappte das Aktenstück zu.»Wäre dem nicht so, käme Ihr Mann nicht so leicht davon.«
«Weil er operierte?«fragte Lisa starr vor dem Unfaßlichen.
«Weil er dem Regime diente mit seinem Können.«
«Er hat den Ärmsten der Armen, den grausamsten Opfern des Krieges, neue Gesichter geschenkt.«
«Das ist die eine Seite. Gut, aber die andere: Zunächst war er ja wohl mit seinem berühmten Namen ein Aushängeschild für Verbrecher.«
«Dann hätte er also sagen sollen: Nein, ich operiere nicht. Ich lasse diese grausam Verstümmelten so herumlaufen, wie sie sind. Ich kümmere mich einen Dreck um die Menschlichkeit, um meinen ärztlichen Eid, um meine Pflicht. Ich bekämpfe dieses Hitler-Regime, indem ich die Verstümmelten verstümmelt lasse. Ich sabotiere den Staat mit den Fratzen der Gesichtslosen. Wäre es so richtig gewesen?«schrie Lisa.
Der Vorsitzende der Spruchkammer sah sie nur starr und sprachlos an.
Aber dann trat Lisa erst richtig in Aktion. Sie zeigte die Reihenfotos der Operationen an den zerstörten Gesichtern, sie zeigte Briefe, sie erklärte Krankenberichte, sie beschwor die Wahrheit über die >General-von-Unruh-Aktion< auf Bernegg und bewies die Rettung von über hundert Verwundeten. Nur an die >Ehre< des ehemaligen Obersten Mayrat und des Oberarztes Dr. Urban konnte sie nicht tasten. Oberst a.D. Mayrat hatte einen Schwager, den man zum Landgerichtspräsidenten ernannt hatte, und Dr. Urban wiederum war ein Freund Mayrats.
«Es genügt auch so«, sagte der Vorsitzende zugeknöpft.»Der Spruchkammerentscheid wird Ihnen zugestellt. «Er klemmte das Aktenstück unter den Arm.
Dann schob er seinen Stuhl zurück und ging steif an Lisa vorbei aus dem Zimmer.
Baumann umklammerte wütend die Stuhllehne vor sich.»Der Deutsche ist wieder satt, man merkt es«, sagte er heiser.»Und ein satter Deutscher ist seine eigene größte Gefahr.«
Professor Dr. Rusch wurde in die Gruppe V der Entlasteten eingestuft. Er las den Entscheid gar nicht, sondern legte ihn zu alten Röntgenbildern, die für das Archiv ausgesucht worden waren.
Auch Famulus Baumann verließ nun das Schloß Bernegg. Er wollte in Bonn zu Ende studieren.»Meine klinische Zeit aber mache ich bei Ihnen, Herr Professor«, sagte er zum Abschied.»Und wenn ich eine nicht zu große Flasche bin, wäre es schön, wenn Sie mich später als Assistent anforderten.«
«Machen wir, Baumann. «Rusch gab ihm eine Empfehlung an den Ordinarius in Bonn mit. Seit einem Monat war auch Rusch wieder als a. o. Professor in die medizinische Fakultät der Würzburger Universität aufgenommen worden. Im Wintersemester sollte er mit Vorlesungen über Wiederherstellungschirurgie beginnen.»Ich hoffe, Sie eines Tages als Oberarzt zu sehen.«
«Denken Sie daran, daß auch Fritz Adam mit im Rennen liegt. Er hat sein Staatsexamen hinter sich.«
«Es ist merkwürdig«, sagte Rusch mit spürbarer Ergriffenheit.»Ihr kommt alle zu mir zurück.«
Baumann senkte den Kopf.»Weil Sie im wahrsten Sinne des Wortes unser Vater sind, Herr Professor, unser aller Vater.«
So wurde Erich Schwabe allmählich sehr einsam im Lazarett, das jetzt offiziell >Versorgungskrankenhaus Schloß Bernegg< hieß. Die Verwaltung hatte ihn als Gärtner und Hausmeister übernommen, er bekam ein kleines Gehalt bei freier Wohnung und freier Kost und galt als Angestellter des Landes Bayern.
Er hatte sogar einen eigenen Wagen: die >Geheimwaffe Berneggs<, den uralten belgischen Beutewagen, den Fritz Adam im Schuppen abgestellt hatte. Bei seinem letzten Besuch hatte er den Vergaser wieder zurückgebracht, den er damals der Krankenschwester Dora Graff zur Aufbewahrung gegeben hatte. Schwabe montierte ihn wieder ein, wusch den Motor mit Dieselöl, kratzte den Rost ab, ließ die Zylinder in einer Werkstatt nachschleifen und fuhr dann unter dem Gejohle der Patienten seine erste Runde um das Schloß.
In Bernegg traf er, wenn er einmal etwas einkaufte, nie mit seiner Mutter oder Ursula zusammen. Er hörte nur, daß seine Frau eine gutgehende Schneiderei mit vier Gehilfinnen habe und daß seine Mutter das Hausgrundstück in Köln verkauft habe, um mit dem Erlös aus dem teuer bezahlten Ruinenplatz Bauland in Bernegg zu erstehen. Der Käufer in Köln war Karlheinz Petsch. Er wollte den ganzen Häuserblock wiederaufbauen, mit großen Läden und luxuriösen Appartementwohnungen. Er konnte sich diesen Plan leisten. Petsch war Millionär geworden. Er besaß ein Bauunternehmen mit 167 Arbeitern, mit modernen Kränen und Betonmischern, Schalgerüsten und Aufzügen.
Erich Schwabe kniff die Lippen zusammen. Aha, dachte er. Noch immer der Petsch. Ein reicher Mann also. Natürlich, so etwas imponiert den Frauen.