Er fuhr zum Schloß zurück und kümmerte sich weiter um seine Blumen, um die Vögel und das zahme Reh, das er großgezogen hatte. Im Winter 1947/48 hatte er es halb erfroren hinter der Schloßmauer im Graben gefunden. Jetzt lief es frei im Park herum und folgte Schwabe bei seinen Arbeiten wie ein Hund.
Eines Tages holte ihn eine Ordensschwester aus dem Gemüsegarten.»Ein Herr möchte Sie sprechen, Herr Schwabe«, sagte sie.
«Ein Herr? Mich?«Schwabe tauchte die schmutzigen Hände in die Gießkanne und wischte sich die feuchten Finger an der grünen Gärtnerschürze ab.»Wer ist es denn?«
«Er hat seinen Namen nicht genannt.«
«Ein Ehemaliger von uns?«Schwabe dachte an Adam oder Hertz, Baumann oder den Berliner. Der Wastl war es nicht, der hätte gar nicht gefragt.
Die Schwester schüttelte den Kopf.»Nein. So sieht er nicht aus. Er hat ein narbenloses Gesicht.«
An der Hecke des kleinen Schloßfriedhofs sah Schwabe mit dem Rücken zu sich den wartenden Mann stehen. Er trug einen hellbeigen, eleganten Sommeranzug und hatte einen weißen Panamahut auf dem
Kopf. Die Querfalten in seinem Rock zeigten, daß er mit dem Auto gekommen war. Sogar weiße Schuhe hatte er an. Während er an der Friedhofsecke stand und über die Gräber blickte, schlug er mit den zusammengefalteten, hellen Schweinslederhandschuhen ungeduldig gegen seinen rechten Schenkel.
«Das ist er?«fragte Schwabe. Die Schwester nickte.»Es ist gut. Danke schön, Schwester.«
Schwabe wartete, bis die wehende weiße Haube zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann kam er langsam näher und stellte sich hinter den wartenden Mann.
«Was willst du hier?«fragte er laut.
Der elegante Besucher fuhr herum. Er starrte Schwabe an, dann wurde sein Gesicht ungläubig und geradezu entgeistert.
«Mensch, Erich — du siehst ja aus wie früher«, sagte Karlheinz Petsch mit bebender Stimme.»Nur noch 'n paar Kratzer in der Haut. Mensch — das ist ja nicht zu fassen!«
«Was willst du hier?«wiederholte Schwabe grob.»Bist du gekommen, damit ich dir die Visage einhaue, du Schwein?«
Petsch trat zwei Schritte zurück. Seine Backenmuskeln drückten sich hart durch die braune Haut. Man sah, daß er sich bezwang, nicht als erster zuzuschlagen.
«Nun blas die Luft ab, Erich«, sagte er stockend.»Zugegeben, es war nicht alles so, wie's sein sollte. Aber wer hat denn schon daran gedacht, daß du jemals wieder. Also, Schwamm darüber. Und außerdem war Krieg, Junge, und wir saßen bis zum Hals in der dicksten Scheiße. Und deine Frau hatte Angst und war einsam und war verzweifelt. Mein Gott, da dreht man durch und macht Dinge, die man hinterher nicht mehr versteht. Und sie hat mich ganz schön zur Minna gemacht, deine Uschi. Erinnerst du dich an die aufgerissene Backe? Da hat mir das kleine Luder.«
«Hau ab«, sagte Schwabe angeekelt.
«Ich habe mit ihr nichts mehr zu tun. Glaub es mir. Ich habe ihr damals nur gesagt: Wenn der Erich kein vernünftiges Gesicht mehr bekommt und du drehst durch, Mädchen — dann komm zu mir. Ich nehme dich immer. Auch mit dem Kind. Das habe ich gesagt, und das kannst du mir nicht übelnehmen, Erich. Wer hat denn daran gedacht, daß du. «Petsch schluckte vor Erregung.»Und nun siehste wieder aus wie früher. Nun ist ja alles hundertprozentig klar, ich bin auch nur gekommen, um dir zu sagen, daß ich dein Haus.«
«Es gehört meiner Mutter.«
«Ich wollte dir einen Vorschlag machen, Erich. «Petsch holte aus der Tasche einen Bauplan und faltete ihn auseinander. Es zeigte eine moderne, vielfenstrige Häuserreihe im amerikanischen Stil. Er hielt Schwabe die Zeichnung hin.»Sieh dir das an. Das gibt ein neues Einkaufszentrum in Köln. Läden und Wohnungen, ein Selbstbedienungsladen, wie bei den Amis, der erste in Köln. Junge, wir müssen die Zukunft vorausspüren und ein Jahr früher dasein als die anderen. Und nun hör zu. Der ganze Klimbim steht auch mit auf deinem Grundstück. Du kommst nach Köln zurück, nimmst die Ursula unter den Arm, ziehst in eine der neuen Wohnungen, wenn sie fertig sind, im Augenblick nimmste dir 'ne alte Villa in Lindenthal, die ich dir besorgen kann. Und du nimmst die ganzen Verglasungen in die Hand, die Mosaikarbeiten, die Böden, den ganzen Innenausbau des Blocks. Meine Firma macht die Hochbauten, die Betonsachen, den Putz. Und in zwei Jahren stehen wir da wie Wool-worth. Was hällste davon?«
«Hau ab«, sagte Schwabe heiser.»Oder soll ich meine Hacke holen?«
«Erich, du Vollidiot«, schrie Petsch und faltete den Plan zusammen.»Du kannst doch nicht wegen einer einzigen Dummheit das ganze Leben deiner Frau und deines Kindes versauen. Mensch, man sollte dir das Gesicht wieder zu Brei schlagen!«
Erich Schwabe wandte sich ab und ließ Petsch stehen. Er ging in seinen Gemüsegarten zurück, bückte sich, drückte die neuen Salatpflanzen in die Pflanzlöcher und begoß sie dann, damit sie gut anwuchsen. Er sah sich nicht mehr um, auch nicht, als er Schritte hinter sich hörte, die am Zaun des Gartens innehielten, wartend, und dann weiterknirschten, dem Ausgang zu, über die von Schwa-be säuberlich geharkten Kieswege.
Bis zur Dunkelheit blieb er im Garten stehen und ließ sein Essen, das ihm von der Krankenhausküche auf sein Zimmer gebracht wurde, kalt werden. Als der Mond durch die Bäume brach, ging er am Teich spazieren, immer rund herum wie ein Esel in einer Oase, der aus dem Wüstenbrunnen Wasser ziehen muß.
Rusch, Lisa und Karlheinz Petsch beobachteten ihn vom Fenster des Chefzimmers aus. Petsch war erregt und nagte an der Unterlippe.
«Sie müssen ihn zur Vernunft bringen, Frau Doktor«, sagte er flehend.»Wie lange soll das noch so weitergehen? Ich möchte sagen, es ist fast ein Verbrechen an Ursula. Und das Kind? >Alle haben einen Papi, warum ich nicht?< hat es gestern zu mir gesagt. >Kannst du nicht mein Papi sein?< — Frau Doktor, das Herz dreht sich einem 'rum.«
«Er reagiert auf Argumente nicht mehr. «Professor Rusch wandte sich vom Fenster weg und trank in kleinen schnellen Schlucken sein Glas Cognac leer.»Man kann ihm mit seelischen Regungen nicht beikommen, es ist, als habe er überhaupt kein Gefühl mehr für menschliche Belange. Er ist irgendwie ausgebrannt, so dumm das klingt. Er ist seelisch tot. Er hat seine Blumen, seine Pflanzen, seine Tiere, sein zahmes Reh — es ist wie eine mittelalterliche Geschichte: Der Einsiedler auf dem Berg. Ich glaube nicht, daß man ihn locken kann mit großen Plänen oder mit Hinweisen auf die seelische Marterung seiner Frau und seiner Mutter. Dann schaltet er einfach ab.«
«Aber so kann es doch nicht weitergehen«, rief Petsch.»Langsam aber sicher geht Ursula zugrunde. Und es wird von Tag zu Tag schlimmer, je mehr das Kind denken lernt und Fragen stellt.«
Lisa schwieg. Ein paarmal sah Rusch zu seiner Frau hinüber, und auch Karlheinz Petsch suchte stumm ihren Rat. Aber sie sagte nichts. Sie sah aus dem Fenster hinaus auf den im Mondschein herumgehenden einsamen Mann, sah, wie seine dunkle Silhouette sich im Wasser des Teiches flimmernd spiegelte und wie das Mondlicht silbern über die Schultern floß und über die blonden Haare, die jetzt weiß leuchteten wie Silberfäden.
«Weißt du etwas?«sprach Rusch seine Frau direkt an.
Lisa zuckte zurück, wie aus weitentfernten Gedanken gerissen.
«Ich? Nein. Wieso ich? Wir bekommen ab Montag eine neue Putzfrau.«
Petsch starrte Rusch verzweifelt an.»Wir denken an ein unlösbares Problem, und jetzt heißt es, es kommt eine neue Putzfrau. Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben, Frau Doktor?«
«Eine gute Putzfrau ist sehr wichtig.«
«Zum Teufel mit Ihrer Putzfrau«, schrie Petsch. Nachdem er es ge-schrien hatte, sah er Rusch an.»Die Nerven«, sagte er stockend.»Verdammt, ich habe auch nur Nerven. Und das hier haut mich um. Sie müssen verzeihen, es war nicht so gemeint. Es ist nur — weil ich ja irgendwie mitschuldig bin. Und ich kann nun nicht helfen. Das ist scheußlich, Frau Doktor.«