Выбрать главу

«Ich habe Angst vor dem Augenblick, wo er es durchschaut«, meinte Frau Kartuscheck. Lisa schüttelte den Kopf.

«Ich nicht. Wenn es soweit ist, wird er sich ein Leben ohne das Kind nicht mehr denken können.«

«Und was dann?«

«Abwarten!«Lisa zündete sich eine Zigarette an, aber ihre Hand war durchaus nicht so ruhig, wie ihre Worte.»Es wird sich alles einspielen. Im Augenblick können wir nur zusehen.«

Im Park in der Nähe des Sees stand das zahme Reh und kaute Eicheln, die Schwabe gesammelt hatte. Es hob kurz den Kopf, als es die Witterung der Menschen aufnahm, äugte zu Barbara hin, die ihm fremd war, und fraß dann weiter. Barbara blieb stehen und klatschte vor Freude in die Hände.

«Wie schön«, rief sie.»Ist das Bambi?«

«Wieso Bambi?«fragte Schwabe verständnislos.

«Nicht Bambi? Wie heißt es denn?«

«Anette.«

«Warum Anette und nicht Bambi?«

«Warum soll es denn Bambi heißen?«

«Alle kleinen Rehe heißen Bambi, weißt du das nicht, Onkel Erich?«Barbara sah Schwabe fast strafend an. Ein ausgewachsener Onkel, der Bambi nicht kennt.»Du kennst Bambi wirklich nicht?«

«Nein, Babs.«

«Ich habe ein Bilderbuch, das bring' ich dir morgen mit, ja? Du wirst sehen, alle Rehe heißen Bambi. Mami sagt das auch.«

«Wenn die Mami das sagt, wird es sicherlich stimmen. «Erich Schwabe trat auf das zahme Reh zu und streichelte es. Es wandte den Kopf, stieß mit der Stirn gegen die Brust Barbaras und leckte ihr dann schnell über die Hand. Barbara quietschte vor Freude.

«Es hat mich gern«, rief sie. Schwabe atmete tief und schnell. Er hatte den Drang, das Mädchen an sich zu reißen, zu küssen, herumzutragen, in den Armen zu wiegen. Es könnte mein Kind sein, dachte er und hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen. So könn-te es auch aussehen, blond wie Ursula. Mein Gott — ich könnte mit dem Kopf gegen die Bäume rennen, ich könnte mir den Schädel einschlagen, so furchtbar ist das, so unerträglich.

«Wer sollte dich nicht gern haben, Babs«, sagte er mit rauher Stimme. Barbara blickte von dem Reh auf — sah ihn an.

«Bist du heiser, Onkel?«

«Ja.«

«Komm, ich hab' Pfefferminz. Mami sagt, dann bekommt man keinen rauhen Hals.«

«Du hast eine kluge Mami«, sagte Schwabe stockend.

Barbara kramte in ihrer Schürzentasche. Sie zog eine Wäscheklammer hervor, ein Stück Bindfaden, zwei zerknitterte Glanzbildchen und einen am Ende zerkauten, stumpfen Bleistiftstummel. Ganz zuletzt kamen die Pfefferminzbonbons zum Vorschein, eine klebrige, aufgerissene Rolle.

«Da, Onkel«, sagte Barbara strahlend und hielt Schwabe die Rolle hin.»Nimm dir zwei.«

Schwabe steckte die beiden Pfefferminztabletten in den Mund. Um seine Augen zuckte es. Mensch, heul nicht, sagte er sich. Er schrie sich innerlich an: Reiß dich zusammen. Du kannst doch hier nicht losweinen. Ein Onkel, der weint, verliert doch allen Respekt.

Aber der Drang in ihm war stärker. Er spürte, wie seine Augen zu schwimmen begannen. Da drehte er sich weg und wischte mit beiden Handrücken über sein zuckendes Gesicht.

«Was hast du, Onkel?«fragte Barbara. Sie streichelte das Reh und hob Eicheln auf, die sie ihm hinhielt.

«Mir ist eine Fliege ins Auge geflogen, Babs«, antwortete Schwabe gepreßt.»Ich hab' sie gleich ausgerieben.«

«Mami hat das auch mal zu mir gesagt«, sagte Barbara und kraulte dem Reh zwischen den Ohren das Fell.»Aber in Wirklichkeit hat sie richtig geweint, ich hab's gesehen, Onkel Erich.«

Mein Gott, mein Gott, dachte Schwabe. Dieses Kind zerreißt mich völlig, aber es ist ein herrlicher, ein einmaliger Schmerz.

Mit dem zahmen Reh gingen sie zur Gärtnerei zurück und zum

Gewächshaus, in dem das Glasbild vom Froschkönig hing.

«Wie schön«, schrie Babs wieder, als sie davor stand.»Der Froschkönig. Und eine richtige Prinzessin ist das. Viel schöner als bei mir im Bilderbuch. Woher hast du das?«

«Ich habe es selbst gemalt.«

«Du? Du kannst das, Onkel?«

«Ja.«

«Eine Prinzessin machen?«

«Ja.«

«Und kannst du auch einen König machen? Einen Zauberer? Eine Hexe? Schneewittchen? Und Zwerge? Und den Wolf mit dem Rotkäppchen?«

«Ich kann alles machen, was du willst, Babs.«

Barbara nickte.»Ich bringe dir morgen alle Bücher mit. Zeigst du mir, wie man das macht?«

Schwabe nickte stumm. Er streichelte die blonden Locken des Kindes und dachte an ein anderes Mädchen, das ungefähr so alt sein mußte und das irgendwo aufwuchs und dem man auf seine Fragen antwortete: Dein Papi ist aus dem Krieg nicht mehr heimgekommen. Und es hatte niemanden, der ihm eine Prinzessin malte oder die sieben Zwerge.

Gegen Mittag holte Frau Kartuscheck mit vielen Dankesworten Barbara wieder ab. Sie packten das Glasgemälde in Packpapier ein, und Barbara winkte aus dem Fenster des Omnibusses bis zur scharfen Kurve hinter dem Wald.

Und es war Schwabe, als sei der Tag mit dem Weggang Barbaras zu einer trägen Last geworden, die erst am nächsten Morgen von ihm genommen würde, wenn Barbaras helle Stimme wieder durch den Garten klang.

Zwei Wochen lang kam das Kind jeden Morgen auf das Schloß und fuhr mit dem Mittagsbus nach Bernegg zurück. Und jeden Tag hatte Erich Schwabe eine neue Überraschung für Barbara bereit, um den Jubel in ihrer Stimme immer wieder zu hören, ihre leuchtenden Augen zu sehen und ihre weichen Arme um seinen Hals zu fühlen.

In diesen Augenblicken war auch Erich Schwabe von Glück erfüllt.

Er hatte für Barbara eine kleine Harke hergestellt, und Seite an Seite standen sie in den Beeten oder im Gewächshaus und pflegten die Blumen, wendeten das geschnittene Gras oder begossen die Rabatten. Schwabe mit dem Schlauch, Barbara mit einer kleinen buntbemalten Gießkanne.

In den Pausen malte Schwabe immer neue Märchenbilder auf Glas. Er zeichnete nur die Konturen, und Barbara malte sie mit Farbe aus, gewissenhaft, mit den zarten Fingerchen sicher den kleinen Pinsel führend und mit viel Gefühl für die Zusammenstellung der Farben.

«Du, Mami hat das Bild aber gut gefallen«, sagte Barbara eines Tages.»Ich hab' es ihr gezeigt.«

«Welches denn?«

«Das von dem Froschkönig.«

Frau Kartuschecks freier Tag war für Erich Schwabe der trostloseste Tag der Woche. Es war, als mache er alle Welt dafür verantwortlich, daß er an diesem Tage Barbara nicht sehen konnte. Am meisten litt die Hecke darunter, er schnitt sie so radikal zurück, daß Lisa zu ihrem Mann sagte:»Jetzt hat er drei Jahre Wachstum weggeschnippelt.«

Und plötzlich kam Barbara überhaupt nicht mehr.

Es war mitten in der Woche, und Erich Schwabe sah verwundert auf die Uhr, als die Glocke in Bernegg neun Uhr schlug und Frau Kartuscheck nicht mit dem Bus gekommen war.

«Sie wird ihn mal verpaßt haben«, dachte er laut, während er die Parkwege harkte und das Laub zusammenkehrte.»Der nächste Bus kommt um zehn.«

Aber auch um zehn kam Barbara nicht. Der freie Tag war es auch nicht, wie Schwabe zur Sicherheit feststellte. Es mußte also etwas geschehen sein, was Barbara am Kommen hinderte.

Sofort wieder Lisa zu fragen, wagte er nicht, um nicht lächerlich zu erscheinen. Aber den ganzen Tag über war er unruhig, schnauzte mit ein paar Patienten herum, weil sie Papier im Park weggeworfen hatten, anstatt die an den Bäumen aufgehängten Papierkörbe zu benutzen, und als es Abend wurde, holte sich Schwabe aus der Klinikkantine einige Flaschen Bockbier und dämpfte mit Alkohol seine innere Erregung.

Am nächsten Morgen um neun Uhr stand Schwabe vor dem Eingang und wartete auf den Bernegger Bus. Er kam, hielt, einige Besucher der Klinik stiegen aus, fuhr weiter — aber Frau Kartuscheck und Barbara kamen nicht.