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Erich Schwabe spürte, daß er die Ungewißheit nicht länger ertragen konnte. Er rannte zu Lisas Zimmer und klopfte an. Die Ärztin nickte ihm freundlich zu, als er sichtlich verwirrt bei ihr eintrat.

«Fragen Sie nicht, Schwabe«, sagte sie, ehe er etwas sagen konnte.»Barbara liegt zu Hause und ist krank. Und im übrigen ist ihre Mutter wieder so weit hergestellt, daß sie sich selbst um das Kind kümmern kann.«

«Krank?«stotterte Schwabe.

«Die Masern.«

«Ist. ist es ernst?«

Lisa lachte.»Aber Schwabe. Die Masern. Haben Sie auch als Kind gehabt. Die ersten Tage hat man hohes Fieber.«

«Hohes Fieber«, sagte Schwabe leise.

«In drei Wochen springt sie wieder herum.«

«In drei Wochen erst?«Schwabe wischte sich über das Gesicht.»Kann. kann man sie besuchen, Frau Doktor?«

«Warum nicht? Babs wird sich riesig freuen.«

«Wird man das auch nicht falsch auffassen? Ich meine, die Mutter oder Frau Kartuscheck und die Nachbarn?«

«Aber Schwabe. «Lisa schüttelte wie strafend den Kopf.»Seit wann haben Sie solche Hemmungen? Sie sind doch Barbaras Onkel Erich. Keiner wird denken, daß Sie wegen Frau Kartuscheck oder der Mutter der Kleinen.«

Schwabe nickte.»Dann werde ich morgen früh fahren, Frau Doktor. Wo wohnt diese. wie heißt sie eigentlich?«

«Barbara wohnt Wacholderweg 14. Sie finden das Haus sofort. Es ist ein weißes Fachwerkhaus mit schwarzen Balken, ganz frisch getüncht. Vor dem Eingang, im Vorgarten, steht eine knallrote Gartenbank. Die leuchtet Ihnen schon von weitem entgegen.«

Den Abend und die halbe Nacht hindurch malte und bastelte Schwabe. Er ging erst beim Morgengrauen ins Bett und schlief drei Stunden unruhig und sich hin und her wälzend. Mit dem Autobus um zehn Uhr morgens fuhr er dann hinunter nach Bernegg, unter dem Arm ein dickes Paket mit einem wunderschönen Märchenbild auf buntem Glas, drei dicken, schwarzblauen Weintrauben und einer Flasche selbstgepreßtem schwarzem Johannisbeersaft.

Vor der Post in Bernegg suchte er auf dem großen Stadtplan den Wacholderweg. Er war weit draußen in einem Neubauviertel, zwischen den Hügeln gelegen. Er war mit dem Omnibus, ohne es zu wissen, vorbeigefahren.

Schwabe kaufte sich in der Bahnhofswirtschaft ein Viertel Wein und trank es in langsamen, kleinen Zügen. Ein Problem, an das er bis zur Stunde nicht gedacht hatte, war wie ein Überfall über ihn gekommen: Was war, wenn er auf dem Wege zum Wacholderweg seiner Mutter oder Ursula begegnete? Es war möglich, daß sie noch in Bernegg wohnten. Er wußte es nicht und hatte seit einem Jahr nicht mehr danach gefragt. Es konnte sein, daß Karlheinz Petsch sie nach Köln zurückgeholt hatte. Er war ja jetzt der große Mann, der Millionär, der Besitzer eines im amerikanischen Stil aufgemachten Supermarktes. Vielleicht spielte er jetzt mit Erika in einem Garten, und Ursula sah von einer Schaukel aus zu.

Bei diesem Gedanken quoll Bitterkeit in Schwabe auf. Sein maßloses Elend kam ihm wieder zum Bewußtsein, seine Einsamkeit, seine Lebensferne und seine Sehnsucht nach einem Kind, dessen Verkörperung Barbara geworden war.

Wenn ich ihnen begegne, werde ich an ihnen vorbeigehen wie an Fremden, dachte er verbissen. Ja, das werde ich. Wenn sie noch hier sind — ich werde sie nicht sehen. Und wenn sie mich anrufen, werde ich taub sein.

Er bezahlte seinen Wein und machte sich auf den Weg zu Barbara.

Niemand Bekannter begegnete ihm. Nur einen Augenblick blieb er vor der Schule stehen. Aus den geöffneten Klassenfenstern hörte er die Fragen der Lehrer und die hellen Antworten der Kinder.

Erinnerungen tauchten auf. In Klasse I das Office von Major James Braddock. Das erste Wiedersehen mit Ursula in Klasse II. Die Fahrt hinauf zur Villa des geflohenen Fabrikanten Wolfach und die erste Nacht — eine junge, blonde, liebende Frau und ein menschliches Ungeheuer ohne Gesicht, eine Fratze ohne Nase und Mund, mit dicken Leukoplaststreifen kreuz und quer verklebt, um das Entsetzen etwas abzudämmen. Eine Frau, die ihn dennoch küßte und sagte:»Ich liebe dich«, und die ihn doch total betrogen hatte mit einem Mann, dessen Gesicht noch lachen konnte.

Wie lange war das her — und doch wie greifbar, gerade jetzt, da er vor der Schule stand und über den Schulhof starrte, auf dem einst die Jeeps der MP geparkt hatten.

In der Schule klingelte es. Pause. Schwabe hörte das Scharren vieler Füße und das Klappen von Pultdeckeln. Da ging er schnell weiter, mit gesenktem Kopf, auf den Staub blickend, den seine Füße aufwirbelten.

Vorbei, dachte er. Ich bin drüber weggekommen. Es tut nicht mehr weh, daran zu denken. Und er spürte dabei deutlich, wie er sich hoffnungslos belog.

Nach einer halben Stunde Weg sah er die Häuser zwischen den Hügeln. Er sah das neugetünchte weiße Haus mit den schwarzen Holzbalken, und wie Lisa gesagt hatte, leuchtete ihm schon von weitem die grellrote Gartenbank entgegen.

Da vergrößerte er seine Schritte und rannte fast dem Haus entgegen. An der weißen Vorgartentür blieb er stehen. Die Fenster des ersten Stockwerkes waren offen: es war ein schwüler, heißer Frühherbsttag, und ein Gewitter war fast körperlich spürbar.

Erich Schwabe starrte zu den Fenstern hinauf. Aus einem der Fenster hörte er eine Stimme.»Mami«, rief die Stimme.»Mami, ich habe

Durst, Mami.«

Barbara.

Warum kam die Mutter der Kleinen denn nicht? Warum antwortete sie nicht? Warum ließ sie das kranke Kind so lange rufen? War sie einkaufen gegangen, und niemand war bei dem Kind geblieben?

«Barbara«, rief Schwabe laut.»Babs, ich bin da. Onkel Erich. Ich komme sofort und bring' dir was zu trinken.«

Er riß die Vorgartentür auf, rannte ins Haus. Unten an der Treppe blieb er stehen und sah zur oberen Diele hinauf, von der eine Anzahl Türen abging.»Babs«, rief er wieder.»Wo bist du?«

«Hier, Onkel Erich, hier!«

Schwabe rannte die Treppe hinauf, der kleinen Stimme nach und riß die Tür auf, hinter der er sie hörte. Ein großes Kinderzimmer tat sich vor ihm auf. Ringsum an den Wänden hingen alle seine auf Glas gemalten Märchenbilder, und inmitten dieser leuchtenden Farben lag in einem weißen Bett Barbara, mit fieberrotem Gesichtchen und mit Flecken übersät.

«Hier bin ich, Babs«, sagte Schwabe und packte sein Paket aus. Er goß von dem schwarzen Johannisbeersaft das Glas voll, das neben Barbara auf dem Nachttisch stand, und stützte ihren Kopf, während sie durstig trank und ihn aus ihren blauen Augen dankbar und voll Freude ansah. Dann legte er sie wieder in die Kissen zurück und zog die Decke über den fieberheißen Körper.

«Wo ist denn nur deine Mami?«fragte er.»Ist sie weggegangen?«

«Eben war sie noch da, Onkel.«

«Vielleicht hinten im Garten?«

«Ich weiß nicht.«

Schwabe streichelte über das rotgefleckte, heiße Gesichtchen. Er fühlte eine unendliche Zärtlichkeit. Hier bleibe ich sitzen, bis sie gesund ist, dachte er. Die Blumen, die Vögel, der Rasen, alles, alles kann warten. Ich muß hier sitzen und aufpassen, es gibt nichts Wichtigeres mehr.

«Ich bleibe jetzt hier«, sagte Schwabe.»Du wirst nie mehr allein sein, wenn die Mami einmal weggehen muß. Eigentlich müßte sie jetzt wiederkommen…«

«Warum?«fragte eine Stimme hinter ihm.»Nun ist ja der Papi endlich da.«

Erich Schwabe duckte sich wie unter einem betäubenden Schlag. Dann schnellte er hoch, stieß den Stuhl um und wirbelte zur Tür herum. Im Zimmer stand Ursula, schmal, blond, mit großen, traurigen, blauen Augen — so, wie sie immer war, von einer zerbrechlichen, hilfesuchenden und aufreizenden Schönheit.

«Was… was soll das?«sagte Schwabe tonlos.»Was machst du? Wie kommst du hierher? Wo ist Barbaras Mutter?«

«Guten Tag, Erich«, sagte Ursula kaum hörbar.

«Das ist er«, rief Barbara aus ihrem Bettchen.»Das ist Onkel Erich, Mami.«

Schwabe stand steif neben dem Bett. Sein Kehlkopf zuckte wild.