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«Du bist. «Seine Stimme erstarb. Vom Bett aus tastete eine kleine, heiße Hand zu ihm. Er nahm sie in seine Hand, hielt sie fest und spürte, wie er zitterte.»Aber… Barbara«, stotterte er.

«Sie heißt Erika Barbara Helga Schwabe. Wir rufen sie Barbara, weil… weil es deine Mutter so schön fand.«

«Mutter. «Schwabe drückte die kleine, heiße Hand an seine Hüfte und streichelte sie mit den Fingerspitzen.»Wo ist sie?«

«Unten. Sie wagt nicht, heraufzukommen. Sie hat Angst, du jagst sie weg.«

«Angst? Meine Mutter?«Schwabes Stimme erlosch.»Bin ich denn ein Untier?«

«Ja.«

Er senkte den Kopf und sank auf den Stuhl zurück. Das heiße Händchen entzog sich seinen Fingern. Dafür schlangen sich zwei dünne Ärmchen um seinen Hals, und ein schweißnasses Köpfchen mit zerwühltem Haar drückte sich an sein Gesicht.

«Warum bist du plötzlich so traurig, Onkel Erich?«

Durch Schwabe lief ein neues, heftiges Zittern. Er warf die Arme um den kleinen Körper und preßte ihn an sich.

«Sie nennt dich Onkel«, sagte Ursula.»Solch ein Untier bist du.«

«Ursula«, schrie Schwabe. Die Qual zerbrach alles in ihm, was er in drei Jahren aufgestaut hatte. Er umklammerte den Körper des Kindes so, wie ein Ertrinkender mit unmenschlicher Kraft sich an ein treibendes Holzstück krallt. Und dann küßte er das heiße, fiebrige Gesichtchen, immer und immer wieder, und plötzlich weinte er, und während er schluchzte, tastete er das Gesicht seines Kindes ab, so wie ein Blinder, der jede Erhebung, jede Rundung, jede Vertiefung mit den Fingerspitzen unlöschbar in sich aufnimmt.

«Mami, schau — ihm ist wieder etwas ins Auge geflogen«, rief Barbara und machte sich aus Schwabes Armen los.»Aber diesmal weint er richtig wie du. «Und Schwabe legte seine Stirn auf das weiße Gitterbett und schämte sich nicht mehr seiner Tränen.

Eine Stunde später hielt der Wagen Professor Ruschs vor dem Haus Wacholderweg 14. Lisa stieg aus und sah zu den offenen Fenstern des ersten Stockwerkes hinauf. Dann beugte sie sich vor und riß die Tür des Fahrersitzes auf.

«Es ist alles so still da oben«, sagte sie.»Zum erstenmal habe ich richtige Angst, Walter.«

«Na, dann gehen wir mal hinauf. «Rusch stieg aus dem Wagen und ließ die Tür zuknallen. Man mußte es oben in den Zimmern hören. Aber nichts regte sich an den Fenstern.

Rusch vermied es, Lisa anzusehen. Er dachte an den Fall Oster und all die Sinnlosigkeiten, zu denen ein Mensch in seiner Verzweiflung fähig war. Lisa Rusch hielt ihren Mann am Arm fest, als er durch die Vorgartentür, die weit offen stand, ins Haus gehen wollte.

«Wenn wir nun eine Dummheit gemacht haben, Walter? Ich hätte ewig ein Schuldgefühl. «Es klang kläglich. Rusch schüttelte den Kopf.

«Wir haben das Beste gewollt.«

Sie betraten das Haus und stiegen langsam die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. Niemand kam ihnen entgegen. Vor der Kinderzimmertür zögerte Lisa wieder, die Klinke herunterzudrücken. >Was werden wir hinter dieser Tür finden<, dachte sie, und sie fror trotz der drückenden Schwüle.

Rusch legte seine Hand über die ihre und drückte die Tür entschlossen auf. Dann blieben sie auf der Schwelle stehen, überblickten das Zimmer, sahen sich befreit und lächelnd an.

Um das Kinderbett saßen Erich Schwabe, Ursula und Frau Hedwig Schwabe. Sie saßen in einem Halbkreis, und wie zu einem Reigen hatten sie sich an den Händen gefaßt: ein Wall um das Kind, das mit lächelndem Gesichtchen schlief. Ursula wandte den Kopf zur Tür. Ihr Lächeln war so voller Glück, daß es keiner Frage mehr bedurfte.

«Sie schläft«, sagte sie leise.»Vor zehn Minuten ist sie endlich eingeschlafen. Aber das Fieber ist noch da.«

Professor Rusch trat leise an das Bettchen heran.»Wir sind auch nur rasch vorbeigekommen, um nach Erika zu sehen. «Er sagte bewußt Erika und legte, als er sich über das Bett beugte, beide Hände auf die Schulter Schwabes.»Ich werde Ihnen noch einige Zäpfchen hierlassen, Herr Schwabe. Und bis zur völligen Gesundung Ihres Kindes sind Sie selbstverständlich beurlaubt.«

Schwabe tastete nach den Händen Ruschs und hielt sie auf seiner Schulter fest.

«Sie haben alles gewußt, Herr Professor.«

«Natürlich. Man hätte Sie ja erschlagen können, und Sie hätten sich geweigert, auch nur mit Ihrer Frau oder Ihrer Mutter zu sprechen. Aber das Kind«, Rusch drückte die Hände Schwabes.»Mein lieber Junge — ich möchte den Menschen sehen, der vor dem Lächeln eines Kindes und vor dem Blick dieser großen blauen Augen nicht alle Vorsätze vergißt und das Kindliche in sich selbst wiederentdeckt.«

«Und wer ist Frau Kartuscheck?«

«Eine gute Bekannte Ihrer Frau. Sie kam zuerst als Kundin in die Schneiderwerkstatt, dann haben sich die beiden Frauen angefreundet. Emmi Kartuscheck ist Fürsorgerin in Würzburg. Ihre Frau, Herr Schwabe, war zwei Wochen an einer heftigen Nervenentzündung der Arme erkrankt. - Tagaus, tagein nähen, das war eben zu viel für die kleine Frau, Sie verstehen. Und die Großmutter allein hätte die ganze Arbeit nicht geschafft. Da haben wir Frau Kartuscheck für die

Betreuung des Kindes geholt und dabei den Plan geboren, Erika zu Ihnen zu bringen. Das Kind wußte von nichts. Sie waren bis heute der gute Onkel Erich für es.«

Schwabe stand leise auf und trat vom Bett zurück. Man sah, daß er sich schämte und daß er nach Worten suchte, um etwas zu erklären oder zu danken. Er reichte Lisa die Hand hin, und es war eine so hilflose Geste, daß die Ärztin sie ergriff und mit der anderen Hand behutsam streichelte.

«Ich… ich bin ein dummer Kerl, Frau Doktor«, sagte Schwabe leise.»Ich verdiene dieses Glück gar nicht.«

«Fangen Sie schon wieder an, Sie Vollidiot?«sagte Lisa in altgewohnter grober Art.»Ihr Gesicht haben Sie wieder, so gut es eben geht. Eine Frau haben Sie und eine Mutter, die für Sie den Satan aus der Hölle zerrt. Und Sie haben das süßeste Kind, das sich ein Vater wünschen kann.«

«Ein so schönes Kind von einem so häßlichen Vater.«

«Schwabe — ich haue Ihnen eine 'runter, wenn Sie weiter solchen Unsinn reden«, sagte Lisa. Schwabe wußte, daß sie es tun würde, und hob mit einem Lächeln den Kopf. Er streckte ihr sein neues, von roten Narben durchzogenes Gesicht entgegen und legte die Hände auf den Rücken.

«Schlagen Sie zu, Frau Doktor«, sagte er heiser.»Bitte, schlagen Sie zu. Nehmen Sie die Faust dafür — ich habe es verdient.«

«Ich werde doch mein eigenes Kunstwerk nicht zerstören. «Lisa lachte und stieß Schwabe vor die Brust.»Das könnte Ihnen so passen: Nochmals drei Jahre hier herumlungern und das dritte Gesicht bekommen. Nein, mein Lieber — Schloß Bernegg ist jetzt für Sie vorbei. Ihre Frau, Ihr Kind brauchen Sie. Oder soll sich Ihre Frau weiterhin die Finger blutig nähen, wo sie doch ein Mannsbild hat, das Bäume ausreißen kann?«

«Wir haben es schon besprochen«, sagte Ursula. Sie deckte Erika zu, die sich im Schlaf bloßgestrampelt hatte.»Wir bleiben zunächst hier. In Köln haben wir alles verkauft. Und ich möchte auch nicht, daß. Nein, es soll wieder ganz von vorne beginnen. Wir sind ja noch jung.«

Frau Hedwig Schwabe verscheuchte eine Fliege vom Kopf des Kindes und dachte, wie immer, am nüchternsten.»Wie sollen wir der Kleinen beibringen, daß der Onkel Erich plötzlich ihr Vater ist?«

Lisa Rusch sah ihren Mann hilfeflehend an. Sie wußte es auch nicht.»Du hast doch auch Psychologie studiert, Walter«, sagte sie.»Es ist wirklich ein Problem.«

Professor Rusch sah an den Wänden entlang und auf die vielen Glasbilder, die Schwabe gemalt hatte.»Sie müssen ein neues Märchen malen«, sagte er langsam.»Die Geschichte von einem Vater, der auszog und dem der Krieg Gesicht und Namen genommen hat.«

«Das ist kein Märchen. Das ist die schrecklichste Wahrheit, die es geben kann.«

«Für das Kind muß es ein Märchen sein, es muß noch an Wunder glauben.«