Frau Schwabe sah ihren Sohn an, wie nur eine Mutter ihren Sohn ansehen kann.»War es nicht ein Wunder?«sagte sie leise.
«Nein«, sagte Professor Rusch plötzlich hart.»Wir haben vier Jahre lang um ein Gesicht gerungen, das in einer Sekunde zerstört worden war. Wir haben Hunderte dieser Gesichter unter den Händen gehabt, und überall wurden zerfetzte Leiber geflickt, wurden Arme und Beine amputiert, zwei Millionen Kriegsbeschädigte tragen die Andenken des Krieges unverlierbar mit sich herum. Und warum? Ist die Welt besser geworden? Hat man aus dem Leid gelernt? Hat man alle Waffen in den Meeren versenkt oder in den Vulkanen verbrannt? Im Gegenteil — jetzt spielt man mit Atomen, wie ein Jongleur mit seinen Bällen. Und der Jongleur aus dem Osten ist neidisch, wenn der aus dem Westen einen größeren Ball balanciert, und umgekehrt. Und einmal werden sie sich diese Bälle an den Kopf werfen wie kleine Jungs, die schreien: >Ich will aber den größten Ball haben.<«Rusch sah auf das kleine weiße Bett und auf das Kind, das sich in unruhigem Fieberschlaf hin und her wälzte.»Diese traurige Wahrheit erzählen Sie dem Kind, lieber Schwabe, wenn es denken gelernt hat. Jetzt müssen Sie noch ein Märchen malen, wie aus dem Onkel Erich der mit einem neuen Gesicht aus dem Krieg zurückgekommene Papi geworden ist. «Er faßte seine Frau an der Hand und zog sie mit sich zur Tür.»So — und nun müssen wir weiter. Und lassen Sie sich nicht einfallen, vor zwei Wochen wieder auf dem Schloß zu erscheinen. Und dann auch nur, um Ihre Entlassungspapiere abzuholen und die Schlußuntersuchung über sich ergehen zu lassen.«
«Herr Professor«, sagte Schwabe stockend».Die Blumen — und das Reh?«
«Verstanden?«schnauzte Lisa Rusch wie früher, als sie noch Lisa Mainetti hieß. Schwabe zuckte zusammen. Er legte die Hände an und warf den Kopf hoch.
«Jawoll, Frau Doktor«, brüllte er zurück.
Im Bettchen fuhr Erika hoch und sah mit halbwachen Augen um sich.»Das Kind«, rief Frau Hedwig Schwabe tadelnd.»Jetzt habt ihr es wach gemacht.«
«Sehen Sie, Schwabe«, sagte Lisa und nickte Schwabe lächelnd zu.»Wir zwei müssen noch allerhand lernen, um perfekt Vater oder — Mutter zu sein.«
Unten am Wagen hielt Rusch seine Frau zurück, als sie einsteigen wollte.»Was war das eben für eine Bemerkung?«fragte er.
Lisa ließ sich auf die Polster fallen und zog den Rock über die Knie. Mit der anderen Hand strich sie ihre schwarzen Haare aus der Stirn.
«Du bist eben ein Gesichtschirurg«, sagte sie lachend.»Unterhalb des Kinns hört für dich die Diagnose auf.«
Mit heulendem Motor raste Professor Rusch nach Würzburg, und in das Heulen hinein sang er mit weit aufgerissenem Mund, laut wie ein verliebter Jüngling.
Im Spätherbst kamen zwei Briefe in Bernegg an.
Der eine hatte einen weiten Weg hinter sich. Er war in New Orleans geschrieben und in New York in den Briefkasten gesteckt worden. Als Absender trug er die Anschrift: James Braddock, Präsident der IAFC.
Der andere Brief trug den Absender einer amtlichen deutschen Dienststelle und war an Erich Schwabe adressiert.
Seit zwei Wochen beherbergte das alte Zimmer B/14 einen neuen Gast, der innerhalb von drei Tagen die anderen Patienten so weit mit Beschlag belegt hatte, daß sie bei seinem Erscheinen schon aufjaulten: Paul Zwerch, der Berliner und Kabarettist, ließ sich nachoperieren.
«Aba nur 'n Stück, Frau Doktor«, sagte er bei der ersten Untersuchung zu Lisa.»Die linke Seite vom Unterkiefer springt mir imma aus' m Jelenk, wenn ick so mache. «Der Berliner machte eine Fratze, es knackte leise, und der Unterkiefer stand schief. Er wies mit beiden Zeigefingern auf seinen Mund.»Det is es«, kam es zischend über seine schrägen Lippen.
Die Ärztin renkte mit einem schnellen Griff den Unterkiefer wieder ein und betastete zunächst von außen die Gelenkpfanne.
«Det ham se mir zu kleen jemacht, Frau Doktor«, sagte der Berliner und bewegte den Unterkiefer vorsichtig auf und ab und hin und her.»Det hoppt imma wieda 'raus.«
«Wer hat denn auch gedacht, daß Sie eine so große Fresse haben, Zwerch«, lachte Lisa.»Ich hätte Ihnen sonst eine Kinnlade wie dem Wastl hingebaut. Na, mal sehen, was der Professor meint.«
Paul Zwerch also brachte die Post in Lisas Zimmer. Er hatte sich innerhalb von drei Tagen zum Kalfaktor der Klinik aufgeschwungen. Er wedelte mit dem Brief Braddocks in der Luft, ehe er ihn Lisa gab.
«Der gute, alte Major«, sagte der Berliner.»Wenn ick um die Briefmarken bitten dürfte, Frau Doktor. Ick sammle nämlich.«
Unten in Bernegg riß Schwabe seinen amtlichen Brief auf. Er las ihn, schüttelte den Kopf, las ihn dann noch einmal und gab ihn an Ursula weiter.
«Nein, so was«, sagte sie, als sie das Schreiben gelesen hatte. Es lautete:
«Nach Durchsicht Ihrer Krankenpapiere, die uns vom Versorgungsamt zugeschickt wurden, haben wir festgestellt, daß Sie 2 Jahre und 4 Monate ungerechtfertigt in klinischer, stationärer Behandlung waren.
Die Kau-, Schluck- und Sensibilitäts-Funktionen Ihres Gesichtes waren bereits längst wiederhergestellt. Trotzdem haben Sie sich in stationäre Behandlung des Versorgungskrankenhauses Schloß Bernegg begeben, um rein kosmetische Operationen an sich vornehmen zu lassen. Der Kostenträger des Versorgungskrankenhauses kommt nur für Funktionsherstellungen, nicht aber für kosmetische Operationen auf. Solche Operationen gehen zu Lasten des Patienten. Sie gelten als Privatbehandlung. Wir haben für Ihren Aufenthalt auf Schloß Bernegg für die Zeit von 28 Monaten, bei einem Tagessatz von DM 12.-, eine Summe von DM 10.080,- errechnet. Wir bitten Sie, die Schuldsumme in den nächsten Tagen auf eines unserer unten bezeichneten Konten zu überweisen. gez. v. Ritter Durchschrift an Herrn Prof. Dr. Rusch.«
Ursula legte den Brief vorsichtig, als sei er aus zerbrechlichem Glas, auf den Tisch zurück.»Was nun?«fragte sie unsicher.
Schwabe starrte vor sich auf den Boden.»Das Leben ist wieder normal geworden«, sagte er dumpf.»Nun kommt der Dank des Vaterlandes auf uns zu. «Er wischte sich über die Augen.»Es ist jetzt ein Verbrechen geworden, ein neues Gesicht zu haben.«
«Aber… aber das kann doch nicht sein, Erich.«
«Hier steht es: Nur Funktionsherstellung. Den Ausdruck kenne ich von früher. «Er zog den Brief an sich und faltete ihn zusammen.»Ich gehe zu Professor Rusch. Fangen wir also wieder von vorne an. Deutschland ist ein ordentliches Land, meine Liebe. Hier ändert sich nichts. Selbst nicht nach sechs Millionen Toten.«
Kapitel 22
Als sich Erich Schwabe bei Professor Rusch melden ließ, wurde er sofort vorgelassen. Lisa saß an der Schmalseite des großen Schreibtisches und füllte Krankenpapiere aus.
«Ich weiß, weshalb Sie kommen«, sagte Rusch, ehe Schwabe den Brief aus der Tasche ziehen konnte.»Das idiotische Schreiben an Sie. Ich habe ja eine Abschrift erhalten. Machen Sie sich keine Sorgen, es wird alles geregelt.«
Schwabe nickte, aber es war ein zaghaftes, ungläubiges Nicken.
«Woher soll ich über 10.000 Mark nehmen, Herr Professor?«
«Reden wir nicht mehr darüber. Wenn Sie das Geld wirklich hätten, würde ich zu Ihnen sagen: Legen Sie es gut an.«
«Sie ja, Herr Professor. Aber die Leute von.«
«Ich werde das klarstellen.«
«Man wird bestimmt Paragraphen haben.«
«Natürlich hat man die. Aber Sie sind eine Ausnahme.«
«Es gibt keine Ausnahmen bei den Paragraphen. Sie werden es sehen, Herr Professor. «Schwabe spielte unruhig mit den Fingern.»Wenn wir wenigstens eine Stundung herausschlagen könnten — eine langfristige Abzahlung.«
Professor Rusch klopfte mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch.»Nichts werden wir. Was kosmetische Operationen sind oder Funktionsherstellungen, das bestimme ich.«
«Natürlich, Herr Professor. «Erich Schwabe sah Rusch fast ein wenig mitleidig an.»Genauso haben Sie bei den Wehrmachtskommissionen gesagt, und Sie haben sich durchgesetzt. Da war aber Krieg. Jetzt ist das etwas anderes, Herr Professor. Jetzt bestimmen Verwaltungsbeamte, was richtig oder nicht richtig ist. Und es gibt nicht mehr den Druck im Nacken, und alle sind wieder satt. Da sieht alles ganz anders aus. Im Kaiserreich hatte man Angst vor den Amtsstuben, unter Hitler Angst vor den braunen Uniformen. Und jetzt sind es wieder die Amtsstuben. In Deutschland läuft doch seit je-