«Und wann willst du den linken Nasenflügel formen?«
«Frühestens in drei Wochen. Ich brauche ja einen Hautlappen aus der linken Wange. Ich bin froh, wenn ich bis dahin genug Wangenfleisch habe.«
Professor Rusch war ans Fenster getreten und blickte hinaus in den Schloßpark. Über die geharkten Wege zwischen den kahlen Bäumen gingen eine Schwester und ein Mann mit einem zerschlissenen Uniformmantel langsam spazieren.
«Sind sie das?«fragte Rusch. Lisa Mainetti kam an das Fenster.
«Ja. Schwester Dora und Erich Schwabe.«
«Er ist doch ein kräftiger Kerl.«
«Ich habe schon Riesen umfallen sehen.«
Sie sahen aus dem Fenster und beobachteten die beiden einsamen Spaziergänger. Plötzlich umklammerte der Professor das Fensterbrett.
«Was macht er denn da?«schrie er.»Ist der total verrückt geworden? Lisa, sieh dir das an!«Er riß das Fenster auf und brüllte hinunter in den Park.»Bleiben Sie stehen, Sie Idiot! Stehenbleiben! Halten Sie ihn doch fest, Schwester.«
«Zu spät!«Lisa Mainetti lehnte den Kopf an den Fensterrahmen. Ihr schmales Gesicht war bleich.»Jetzt weiß er es.«
Unter den hohen Bäumen gingen sie spazieren und blieben ab und zu stehen, um die Vögel zu füttern. Dora Graff, die junge Stationsschwester, hatte altes Brot zerbröckelt und Erich Schwabe in einer Tüte gegeben, ehe sie hinausgingen in den Park.
Schweigend hatten sie kurz auf einer Bank gesessen, bis Schwabe sah, wie Dora Graff die Schultern einzog und zitterte. Da waren sie weitergewandert, und Schwabe hatte, so gut es ging, die kalte Dezemberluft in sich aufgesogen. Noch hatte es nicht geschneit, nicht einmal starker Frost war in den Nächten über das Land gefallen. In Rußland, dachte Schwabe, während er die Buchfinken fütterte, weht jetzt der Schneesturm über die Steppe. Dreimal habe ich es mitgemacht. Vierzig Grad Kälte, daß die Hände an den Gewehrläufen kleben bleiben. Wie haben wir über diese Winter geflucht… und später fehlten sie uns, später haben wir sie sehnsüchtig herbeigewünscht, wenn wir im Schlamm steckengeblieben waren oder in der glühenden Sonne brieten wie geplatzte Blutwürste.
Sie waren etwa eine halbe Stunde draußen, als Erich Schwabe zwischen den Bäumen etwas schimmern und blinken sah. Ein Teich, durchfuhr es ihn. Ein richtiger, kleiner Schloßteich.
Er blieb stehen, streute wieder Brotkrumen und schielte zu dem Wasserspiegel hinüber.
Wasserspiegel, dachte er. Spiegel. Spiegel. Natürlich, Spiegel. Eine ruhige Wasserfläche spiegelt.
Der Drang in ihm wurde übermächtig. Sieben Wochen haben sie mir keinen Spiegel gegeben. sieben Wochen lang hat mir keiner gesagt, wie mein Gesicht aussieht. Nur gefühlt habe ich einiges. Pflaster, Verbände, große Narben, Fleischrollen, Hautlappen, Grüfte in meinem Gesicht und Höhlen und Hügel.
Und nun ist ein Spiegel da… ein silberner, riesengroßer Spiegel… ein blanker Teller, auf dem ihm die Wahrheit serviert werden wird.
Er schielte wieder zu Schwester Dora. Sie stand etwas abgewandt und sah zurück zum Schloß. Da warf er die Tüte mit den letzten Brotkrumen hin und rannte dem Teich entgegen.
Er hörte Rufen, einen hellen Schrei, Befehle, schnelle Füße, die ihm nachliefen. da warf er sich nach vorn und rannte mit ausgestreckten Armen wie um sein Leben. Seine Brust stach, in seinen Schläfen hämmerten hundert Hämmer gegen die Hirnwindungen. er spürte, wie die Kraft aus seinen Beinen wich und sein Körper taumelnd schwankte.
Der Spiegel… noch fünf Schritte, noch drei… noch einen.
Dann stand er keuchend am Wasser, beugte sich weit vornüber und starrte auf das Bild, das die blanke Fläche ihm zurückwarf.
Der Kopf eines Ungeheuers. Das Gesicht eines unmenschlichen Wesens. Keine Nase, kein Mund, kein linkes Ohr… einige Fleischrollen auf einem verwitterten, alten Pergament, ein zerklüftetes Etwas mit einem Schlund.
«Nein!«schrie er grell. Etwas Heißes durchraste seinen Körper, vom Hirn bis zu den Zehen, es durchglühte ihn und tauchte ihn gleich danach in das Eiswasser eines unerträglichen Entsetzens.
«Nein! Nein!«brüllte er. Im Wasser sah er, wie die Höhle, die einmal ein Mund gewesen war, in seinem Schreien an beiden Seiten einriß, Blut floß über Kinn und Hals, und der Spiegel des Teichs warf alles zurück in seine Augen. dieses entsetzliche Bild eines schreienden, heulenden, blutenden Ungeheuers.
«Nein!«brüllte Schwabe noch einmal.
Dann breitete er die Arme weit aus und ließ sich ins Wasser fallen.
Kapitel 3
Im gleichen Augenblick hatte die kleine Schwester Dora Graff das Ufer erreicht. Sie weinte laut, während sie Erich Schwabe nachgelaufen war, und sie versuchte noch, mit beiden Händen zuzugreifen, um ihn zurückzureißen. Es war zu spät. Sie faßte ins Leere und sah vor sich den Verzweifelten ins Wasser stürzen, sah einen flatternden, alten Uniformmantel, der sich über der Oberfläche blähte.
Stimmen hinter ihr riefen:»Zurückholen! Packen Sie ihn doch! Schnell!«
Mit einem Ruck riß Schwester Dora ihren Mantel herunter und sprang Erich Schwabe nach. Als das eiskalte Wasser über ihr zusammenschlug, war es ihr, als erstarrte ihr Körper. Dann tauchte sie auf, sah am Ufer zwei Sanitäter mit langen Bohnenstangen und von
Block B her Professor Rusch und Dr. Lisa Mainetti herbeieilen. Der aufgeblähte Mantel Schwabes war neben ihr, sie griff mit beiden Händen zu, riß und zerrte an ihm, spürte einen Arm, umklammerte ihn. Zwei Männer waren plötzlich an ihrer Seite und halfen ihr, Schwabe ans Ufer zu ziehen. Ein Sanitäter wickelte Dora Graff in eine Wolldecke und trug sie im Laufschritt in den Block B. Dort wartete die Oberschwester auf sie und zog ihr die nassen, eisigen Kleider aus.
«Lebt… lebt er noch?«fragte Dora Graff, als sie im warmen Bett lag. Sie war noch völlig erstarrt. Die Antwort der Oberschwester hörte sie schon nicht mehr. Sie schlief ein, erschöpft und von einer Injektion aus der Wirklichkeit weggenommen. Jetzt sterbe ich, war ihr letzter Gedanke. Jetzt bin ich erfroren.
Am Teich lag Erich Schwabe auf zwei dicken Wolldecken. Ein Assistenzarzt kniete neben ihm und pumpte das Wasser aus Lunge und Magen. Aus der Höhle, die einmal ein Mund gewesen war, floß es, zusammen mit Blut, wie ein kleiner Bach und befleckte die Decken.
«So ein dummer Junge«, sagte Lisa Mainetti.»Als ob das eine Lösung aller Probleme wäre.«
«Das wird ihn teuer zu stehen kommen!«Eine kalte Stimme ließ Lisa herumfahren. Oberarzt Dr. Urban stand hinter Professor Rusch, die Hände in den Taschen seiner Offiziersuniform, eine Zigarette im Mundwinkel. Er sah auf den ohnmächtigen Schwabe herab, als betrachte er angewidert einen Abfallhaufen.
«Sie sollten helfen und nicht quatschen!«sagte Lisa Mainetti. Den warnenden Blick des Chefarztes beachtete sie nicht.
«Er gehört zu Ihrer Station, Frau Kollegin!«Dr. Urban warf die Zigarette weg. Sie fiel neben den Kopf Schwabes. Als er mit der Stiefelspitze die Glut austrat, spritzten ein paar Funken auf den frisch eingenähten Rollappen.
Lisa wickelte die nassen Decken um Schwabe und winkte zwei Sanitätern, ihn ins Haus zu tragen. Die Wiederbelebungsversuche waren erfolgreich. Schwabe atmete wieder, röchelnd, pfeifend, und mit seinem Atem verstärkte sich auch die Blutung aus der Mundhöhle.
Dr. Mainetti drängte Dr. Urban ein paar Schritte zur Seite.
Dr. Urban sah zu, wie die beiden Sanis den schlaffen Körper in den Decken zum Block B trugen. Der Assistenzarzt und Professor Rusch folgten. Urban hörte noch, wie der Chefarzt rief.»Gleich in den OP.«, dann wandte er sich an Dr. Mainetti, die am Ufer des Teiches stehengeblieben war. Sie waren allein. Die anderen Verwundeten waren der kleinen Gruppe zum Block B nachgezogen.
Dr. Urban zündete sich eine neue Zigarette an. Er zögerte einen Augenblick, dann kam er zwei Schritte auf Lisa zu und hielt ihr sein Etui hin.