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Der Verwaltungsdirektor war aufgesprungen. Sein Gesicht war gerötet vor Erregung.»Herr Professor«, rief er hell.»Auch ein Mann wie Sie kann sich eine Erpressung nicht leisten. Wenn Sie nach Amerika gehen wollen — bitte, gehen Sie. Es wird Nachwuchs geben. Oder glauben Sie, Sie könnten damit eine Streichung der Schuld dieses Schwabe erzwingen? Das ist ja lächerlich. So stellt sich der kleine Mo-ritz die Gesetze vor. Ein Staat ohne festumrissene Bestimmungen ist wie ein Schiff ohne Ruder — es treibt hilflos auf den Wellen. Und ich wiederhole es: Auch bei den Gesichtsverletzten, so schrecklich ihre Verwundung ist, muß es eine Grenze geben, wo die Notwendigkeit aufhört und die Kosmetik beginnt. Und diese Grenze hat dieser Schwabe seit langem überschritten.«

Professor Rusch nahm den Brief Braddocks, den der Direktor nicht lesen wollte, wieder an sich und steckte ihn ein. Ganz ruhig, als habe es sich in den vergangenen Minuten nicht um Grundsätzliches in seinem Leben gehandelt, sagte er:

«Ich übernehme die Schuld des Herrn Schwabe. Die zehntausend D-Mark bezahle ich.«

«Bitte innerhalb von vierzehn Tagen. Wir müßten sonst die Summe einklagen.«

Rusch blieb an der Tür stehen. Er sah den Verwaltungsdirektor mit dem geröteten Gesicht an wie einen dampfenden Misthaufen.

«Meine Erziehung verbietet es mir, Ihnen zu sagen, was Sie mich können«, sagte er, jedes Wort deutlich betonend.»Aber wenn Sie es erraten, was ich meine — genau das können Sie mich.«

«Das war nicht das letzte Wort«, rief der Direktor bebend vor Wut. Rusch schüttelte den Kopf und riß die Tür auf.

«Das letzte Wort schon. Aber die Handlung steht Ihnen jederzeit frei.«

Zufrieden ging Erich Schwabe zurück nach Bernegg.

«Es ist alles in Ordnung«, hatte Professor Rusch gesagt, als er von Block A zurückkam.»Sie brauchen nichts zu bezahlen. Ich habe mit dem Direktor gesprochen. Die Kosten übernimmt ein anderer. Also, Schwabe — keine grauen Haare. Bleiben Sie blond.«

Lisa wartete, bis Schwabe gegangen war. Dann kam sie zu Rusch und legte ihm die Arme um den Hals.

«Der andere — das bist doch du?«fragte sie.

«Wieso?«Rusch blätterte abwesend in einer dicken Krankenge-schichte.

«Weil du mir nicht in die Augen sehen kannst und weil du gar keine Begabung hast, mich zu belügen, mein Lieber. «Sie küßte seinen Nacken und legte ihren Kopf an seine Wange.

«Wetten, es hat einen Mordskrach gegeben?«

«Wette gewonnen«, sagte Rusch hart.

«Und nun bist du mit allem fertig, nicht wahr? Auswandern, Deutschland vergessen, in der Fremde vor Heimweh umkommen?«

«Ich nehme den Ruf Braddocks an. Ich werde ihm noch heute abend schreiben. Wenn zwei Weltkriege es nicht vermocht haben, die deutsche Bürokratie zu zerstören.«

«Und jetzt mit dem Kopf gegen die Wand. Aber die Wand ist stärker, Walter. Du rennst dir den Schädel ein.«

«Ich kann hier nicht mehr bleiben«, rief Rusch und trommelte mit den Fäusten auf den Schreibtisch.»Die Vertrauensärzte, die im Auftrag ihrer Behörden die Schadensprozentsätze drücken, die Höhe der Kriegsbeschädigtenrenten, die ohnehin eher ein Trinkgeld für die Komparsen des Kriegstheaters sind, als eine gerechte Unterstützung für verlorene Gesundheit im Dienst des Vaterlandes — diese fast höhnische Behandlung der Verletzten, als wolle man ihnen sagen: Ihr seid ja selbst schuld, warum habt ihr euch da hingestellt, wo es krachte? Nein, das mache ich nicht mehr mit, Lisa. Habe ich deshalb jeden einzelnen meiner Gesichtsverletzten wie ein eigenes Kind behandelt, damit man jetzt sagt: Sie sehen aber wieder gut aus, und arbeitsfähig sind Sie ja auch, wir streichen Ihnen die Rente bis auf einen Bruchteil? Einmal ist die Grenze erreicht — ich gehe nach Amerika.«

«Aber wann!«fragte Lisa sanft.

«Sofort.«

«Das wird nicht gehen.«

«Warum?«

«In fünf Monaten kommt ein neuer oder eine neue Rusch auf die Welt.«

Rusch ergriff Lisas Hände und drückte sie.»In New York, Lisa. Und dieser Junge oder dieses Mädchen wird einmal mit Staunen in einem Lesebuch lesen, daß es jenseits des großen Teiches ein altes Land gibt, das eine zweitausendjährige Kultur besitzt und es in einem Teufelsrhythmus von jeweils einer Generation immer wieder fertig bekommen hat, diese Kultur stückweise selbst zu zerstören.«

«Vielleicht. Aber ich bin altmodisch, Liebster. «Lisa hielt die streichelnden Hände Ruschs fest.»Ich will, daß mein Kind hier geboren wird. Nicht allein in Deutschland, nein, auf diesem alten Schloß Bernegg.«

«Verrückt«, knurrte Rusch.»Wie sentimental!«

«Mag sein. Aber hier war ich zum erstenmal in meinem Leben richtig glücklich. Und ich möchte das größte Glück hier erleben: ein Kind zu haben. Kannst du das nicht verstehen, du Brummbär?«

Rusch schwieg. Er schüttelte auch nicht den Kopf, noch nickte er.

«Gut«, sagte er nach langem Schweigen.»Dann gehen wir in die USA, wenn das Kind da ist.«

«Dann wird Theo Adam zu dir kommen als Assistent. Und auch Baumann wird dann so weit sein. Du hast es beiden fest versprochen. Und Kaspar Bloch kommt schon in vier Monaten zu uns. Er will sein Praktikum in der psychologischen Behandlung Gesichtsversehrter machen. Er hat heute geschrieben. Du hast den Brief vor lauter Ärger noch nicht gelesen.«

Professor Rusch schwieg wieder. Er konnte nichts sagen, weil er fühlte, wie recht Lisa hatte. Schloß Bernegg und seine Gesichtsverletzten waren eine eigene, waren seine Welt geworden. Hier war er wie ein kleiner Herrgott, der durch die Kraft des großen Herrgotts mit seinen Händen neue Gesichter schuf und neues zukunfttragendes Leben schenkte. Hier war er die letzte Station, der letzte und einzige Retter, Vater und Mutter zugleich. Zu ihm kamen die Wesen ohne Gesicht, die einmal Menschen gewesen waren und denen er das Menschsein in mühseliger Kleinarbeit millimeterweise wiederschenkte.

«Nun trinken wir einen Cognac«, sagte Lisa Rusch leise und trat zurück.»Und dann spreche ich mit dem Verwaltungsfritzen wegen der Abzahlung. Ober haben wir 10.000 Mark übrig?«

«Nein.«

«Auch darüber werden wir kommen. «Sie goß die Cognacschwenker halb voll und trug sie zu Rusch.»Wir haben das Braune Reich, den Krieg und die Hungerjahre überlebt. Es wäre ja gelacht, wenn wir jetzt am Frieden zerbrechen sollten.«

Zwei Besucher trafen in Abständen von zwei Tagen auf Schloß Bernegg ein. Ohne sich anzumelden, ohne Vorankündigung, sie waren plötzlich da, überraschend wie Schnee aus Sommerwolken.

Major James Braddock und der Wastl Feininger.

Zuerst kam der Wastl. Nicht freiwillig, sondern notgedrungen. Er kam auch nicht forsch oder zumindest mit Galgenhumor, nein, er stand mächtig, dick und breit im Chefzimmer, drehte seinen Hut mit dem gewaltigen Gamsbart in den Händen, und die Kläglichkeit einer zerstörten Kreatur lag über ihm wie eine glänzende Ölhaut.

Sein Gesicht war dick verbunden: wie in alten Zeiten trug er wieder den mächtigen Turban, der ihm damals den Namen >Wastl-Pa-scha< eingebracht hatte.

«Was ist denn das?«fragte Lisa, als sie sich von dem ersten Erstaunen erholt hatte.»Wastl, Mensch, was ist denn mit Ihnen los? Wie sehen Sie denn aus?«

Der Wastl ließ seinen Hut schneller zwischen den Fingern rotieren.»Dös is a Kreiz«, kam es mühsam aus den Verbänden und Leukoplaststreifen.»Hab' i ahnen könna, daß 's Mariandl an festen Burschen hat? Und a Mordstrumm dazua. Himmisakra no amoi.«

Die Ärztin kam auf den Wastl zu und betastete dessen Gesicht. Sie sah, wie sich sein Mund im Schmerz verzerrte.

«Dös Nosenboa is es«, sagte er rauh.»Und der große Lappen, der überpflanzte, abg'rissen hot er 'n mir, der Bazi, der verfluachte. Und i hob d' Loater no net am Fensterl g'habt.«