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«Damned. «James Braddock sprang auf. Er war sichtlich wütend wie damals, als seine Truppe von einem Unbekannten zaubern lernte und seine Neger plötzlich auf Berneggs Straßen jodelten.»Was ist denn seine Welt? Das alte, verfaulte Germany? Das degenerierte Europa? Die Schlafmützigkeit der westlichen Welt? Spukt bei euch schon wieder dieser verdammte deutsche Nationalismus herum?«

«Nichts von alledem, James, aber für uns ist das menschliche Gesicht ein Kunstwerk, das die Seele widerspiegelt. Es ist eine Visitenkarte Gottes, auf der man lesen kann: Seht, so vollkommen arbeitet der Schöpfer.«

Braddock wandte sich ab. Plötzlich schämte er sich.»Ich verstehe«, sagte er leise.

«Für uns ist ein Gesicht kein dollarspuckender >Esel-streck-dich< — das ist der einzige, aber auch der unüberwindliche Unterschied zwischen James Braddock und Walter Rusch.«

Professor Rusch nickte. Er griff über den Tisch nach Lisas Händen und drückte sie.»Ich danke dir, Lisa«, sagte er.»Du hast eine wundervolle Gabe, Niederlagen in Siege hinaufzureden.«

«Sonst wäre sie keine Deutsche«, sagte Braddock giftig. Aber es war kein ätzendes Gift mehr, sondern kapitulierender Sarkasmus.»Also schweigen wir über USA. Was hat sich hier ereignet in den Jahren?«

James Braddock erinnerte sich noch an alles, sogar einen großen Teil der Namen hatte er behalten.»Es war merkwürdig«, sagte er und umfaßte die Whiskyflasche.»Man rückt ein, um die Deutschen zu bestrafen. Und was tut man? Man liebt sie auf einmal. Wirklich, es war eine schöne Zeit in Bernegg.«

Lisa erzählte von dem tragischen Ende Christian Osters, von Fritz Adam, der jetzt auch schon Arzt war, von Famulus Baumann, der in drei Monaten sein Staatsexamen beendet haben würde, von dem Berliner, der auf den Brettern eines Kabaretts seine Maschinengewehrschnauze verschoß, von Kaspar Bloch, der die wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hatte, von Schwabes und Walter Hertz' Lebenshetze und von Wastl Feiningers Abenteuern. Braddock nickte bei jedem Namen und erinnerte sich.

«Hertz, der Junge mit dem Kriegsverbrechertöchterchen. Ist es gut gegangen?«

«Nach dreimaligem Anlauf.«

«Und die schreckliche Villa unten in Bernegg?«

«Haben die Wolfachs verkauft und sich bei München im Isartal eine neue gebaut. Einen kleinen Palast. Der alte Wolfach steht wieder auf beiden Beinen und exportiert sogar in die Länder, die ihn einmal zum Kriegsverbrecher stempelten. Walter Hertz ist technischer Assistent eines der neuen Werke bei Donaueschingen. Sogar Frau Wolfach gewöhnt sich an seinen Anblick. Er wird im Winter zu Nachoperationen zu uns kommen.«

«Und der Wastl? Dieses Urvieh?«

«Der ist hier.«

Braddock sprang auf.»Hier? Und das sagen Sie mir jetzt erst? Der Kerl, der meinen Negern das Jodeln beibrachte. Kann ich ihn sehen?«

Eine Stunde später kam Braddock in das Zimmer 14. Der Wastl Feininger saß allein am Tisch und starrte trübsinnig in ein altes Buch der Klinikbibliothek. Es war ein Roman von der Waterkant, und der Wastl verstand nicht einen einzigen Ausdruck von Fischfang und Seefahrt.»Auch dös is deutsch«, seufzte er und kam um vor Langeweile.

Seine Nase hatte Rusch wieder gerichtet. Jetzt trug der Wastl in den Nasenlöchern Kunststoffröhrchen, die ein Stück aus der Nase herausragten. Der abgerissene Rollappen war völlig entfernt worden. Rusch hatte angekündigt, daß er übermorgen mit dem >Transport< eines neuen Lappens beginnen wollte, und der Wastl wußte, wie langwierig und lästig das war.

Als James Braddock ins Zimmer trat, sah der Wastl kurz auf und musterte den Eintretenden. Da das Gesicht des >Neueinganges< normal war, brummte der Wastclass="underline" »Kannste Skat spielen, Kumpel?«

«Ohne dritten Mann?«fragte Braddock zurück.

«Den kriag'n ma a.«

Braddock setzte sich an den Tisch und tippte dem trübsinnigen Wastl auf die Schulter. Lisa und Professor Rusch waren in der Tür stehengeblieben. Wastl sah sie nicht, er saß mit dem Rücken zum Eingang.

«Wir kennen uns doch«, sagte Braddock.

«Hä?«machte der Wastl.

«Hast du nicht den Negern das Jodeln beigebracht? Und als damals der amerikanische Major ins Zimmer kam, hast du Rindvieh >Heil Hitler< gerufen.«

Den Wastl durchlief es wie eine elektrische Stromwelle.»Him-mioarschsakrament«, brüllte er plötzlich und sprang auf.»Der Major. «Er stand stramm und sah jetzt auch Lisa und Rusch in der Tür stehen.»Dös mit dem Zaubern, Herr Major, dös wor'n nur die 700 Kalorien. I hob an Hunger g'habt.«

Braddock nickte und zog Wastl Feininger auf den Stuhl zurück.»Ich war nicht schuld, mein Junge. Aber ich will versuchen, etwas nachzuholen. «James Braddock sah sich zu Lisa und Rusch um.»Wer ist eigentlich noch erreichbar von den boys des Zimmers 14?«

Lisa lachte.»Alle. Bis auf Oster«, fügte sie leise hinzu.

«Very good. «Braddock legte den Arm um den verblüfften Wastl.»Ich bleibe noch zwei Wochen hier. Sie sollen alle wieder hierher kommen — auf meine Kosten. Und dann wollen wir ein Wiedersehen feiern und meine schönste Zeit in Old Germany. Und.«, er sah Professor Rusch plötzlich ernst an,»und meinen Abschied von euch allen. Denn Sie kommen ja doch nicht in die Staaten, Professor.«

«Nein, bestimmt nicht, Braddock. Und ich weiß, daß Sie mich jetzt sogar verstehen können.«

«Vielleicht. Zugeben werde ich es nie. «Er schüttelte den Wastl und hieb ihm auf die Schulter.»Und du bringst mir das Jodeln bei. Ich kann's noch immer nicht. Obwohl ich es damals heimlich in meinem Dienstzimmer geübt habe.«

Es war ein weiter Weg von diesen Tagen bis zu jenem Vormittag im Frühjahr 1962, an dem Erich Schwabe mit seiner Frau Ursula im Gang des neuen Behördenhauses wartete. Es lagen 13 Jahre dazwischen, und man glaubt, das sei eine schier endlose Zeitspanne. Und doch waren die Jahre weggeflogen wie früher die Monate. Nur an den Menschen der Umgebung erkannte man, daß Altern und Wachsen sich im ewig gleichen Rhythmus vollzogen, auch wenn man es nicht deutlich wahrnahm.

Erika Barbara war nun über fünfzehn Jahre alt und besuchte die Oberschule, ein schlankes, hübsches, hellblondes Mädchen, mit dem Schwabe stolz durch die Straßen ging. Und wenn die jungen Männer ihr nachblickten, dachte er fröhlich: Na wartet, der Weg zu Erika führt über mich.

Die Schwabes waren nach fünf Jahren aus Bernegg weggezogen, wieder zurück an den Rhein. Die alte Sehnsucht der Kölner, im Umkreis der Domtürme zu leben, war auch in Schwabe mächtig geworden.»Ich kann nun mal nichts dafür«, hatte er gesagt und sich in Köln eine schöne Wohnung genommen. Dort hatte er wieder als Glaser begonnen, fleißig und zäh. Inzwischen besaß er eine Glasgroßhandlung, ein Häuschen am Rande des Stadtwaldes und vier Glaserkolonnen, die Hochhäuser und Bürobauten verglasten. Frau Hedwig Schwabe lebte bei ihnen. Sie war jetzt sehr gebeugt und wurde vom Rheuma gepeinigt.»Die Jahre im Keller«, sagte sie immer.»Jetzt kommt's 'raus. Wir haben alle unser Andenken an diese Zeit.«

Nun warteten sie im Flur der Behörde, Erich Schwabe und Ursula. Das große Wartezimmer war überfüllt. Dicke Schwaden von Zigaretten- und Pfeifenrauch zogen durch die offene, breite Glastüre des Warteraumes auf den Flur. Gegenüber befanden sich zwei weitere Türen. >Vorzimmer — Vertrauensarzt^ stand auf einer Tür, und >Untersuchungszimmer — Eintritt verboten — Anmeldung Zimmer

10< stand auf der anderen.

Schwabe blickte in den vollen Warteraum. Dort saßen sie herum und lasen Illustrierte oder unterhielten sich. Männer mit schiefen Schultern, Amputierte, Männer mit Narben im Gesicht, mit dick-sohligen Schuhen, mit scharfen Brillengläsern. Elegante Herren und Männer in zerknitterten Hosen. Und immer wieder kamen neue durch die große Pendeltür und stellten sich an den Wänden des Flures auf.

«Die will der alle heute vormittag abfertigen?«sagte ein Armamputierter.»Na Prosit. Wie in alten Zeiten — erste Reihe vor, Zunge 'raus, Ahhh sagen, kv. Ab durch die Mitte. «Er sah Schwabe an und nahm seinen Hut vom Kopf.»Gesichtsverletzt, nicht wahr?«