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«Ja«, sagte Schwabe etwas steif. Er sah auf die Masse Kriegserinnerung, die hier herumstand und hinter den Illustrierten saß, und ein plötzlicher Widerstand gegen das, was ihn hier erwartete, wuchs in ihm heran. Schon als er das amtliche Schreiben bekam >zur Nachuntersuchung wegen Neufestsetzung des Rentensatzes<, hatte er zu Ursula gesagt:»Wann geben die endlich Ruhe? Die Behörden sollten innerhalb von 17 Jahren gemerkt haben, daß ich mein Gesicht verloren habe. Wozu immer diese Neufeststellungen?«

«Mir haben sie den Arm abgeschossen. Russisches Explosivgeschoß. Kennen Sie ja, nicht?«Der Mann neben Schwabe stopfte den lose herabhängenden Jackenärmel in die Seitentasche.»Das ist ja nun klar. Das sehen die Brüder von der Rente ja. Aber seit einigen Jahren hab' ich dazu Kreislaufstörungen bekommen. Und das wollen sie nicht als Kriegsschaden anerkennen. Vor allem der da drinnen«, er nickte zu der Tür mit der Aufschrift Untersuchungszimmer,»der hat zu mir gesagt: >Wo gibt's denn das? Was hat das Herz mit dem Arm zu tun? Nachher kommen die Leute noch und wollen Rente, weil ihnen aufgrund einer gebrochenen Zehe die Haare ausfallen.< Ich habe nun geklagt, ich habe drei Fachgutachten mit, daß meine Kreislaufstörungen in ursächlichem Zusammenhang mit meiner Amputation stehen. Bin mal gespannt, was der da drinnen sagt. Kennen Sie ihn?«

«Nein. Ich bin zum erstenmal hier.«

«Na, dann wappnen Sie sich mit Fassung. Der wird Ihnen erzählen, Sie sähen aus wie ein Filmstar.«

Obwohl es bei jedem einzelnen bemerkenswert schnell ging, wobei keiner das Vorzimmer ohne wütende Miene wieder verließ, dauerte es doch über drei Stunden, bis Schwabe an der Reihe war. Er trat in das Vorzimmer, gab zwei hübschen jungen Damen seine Personalien an, man suchte seine Akte heraus und wartete dann auf ein akustisches Signal — ein vornehmes Summen —, um die Tür zum Untersuchungszimmer zu öffnen.

Schwabe trat langsam ein. Eines der Mädchen legte seine Akte auf einen kleinen Seitentisch und ging schnell wieder hinaus. Die Tür fiel lautlos zu. Es war ein großer, quadratischer Raum, modern und sachlich eingerichtet. Ein großer Schreibtisch, helle Anbaumöbel, ein Untersuchungsbett, einige Meßinstrumente, zwei Instrumenten-schränke, eine blau gekachelte Waschecke und zwei große Fenster auf einen schönen Garten.

Der Vertrauensarzt stand am Waschbecken und wusch sich die Hände. Er war groß, schlank, hatte blonde, gelockte Haare und trug unter dem weißen Arztkittel enge hellbeige Hosen ohne Aufschläge. Seine spitzen italienischen Schuhe blitzten vor Sauberkeit.

Erich Schwabe war an der Tür stehengeblieben. Mit großen Augen starrte er auf den Rücken des sich waschenden Arztes. Dieser griff gerade nach dem Handtuch und trocknete sich ab, noch immer der Tür abgewandt.

«Na, was ist denn?«fragte er.»Ihren Namen bitte. Oder sind Sie stumm?«

Schwabe schluckte mehrmals. Dann sagte er laut und abgehackt:»Nein, Herr Oberarzt Dr. Urban.«

Dr. Urban fuhr herum. Jetzt sah Schwabe, daß Urban etwas fülliger um den Leib herum geworden war. Aber das Gesicht war das gleiche, schmal, hochmütig, etwas verkniffen. Nur unter den Augen hingen Tränensäcke und machten dieses nordische Gesicht alt.

«Sie kennen mich?«fragte Dr. Urban steif. Er ging hinter seinen

Schreibtisch und setzte sich.

«Sie kennen mich nicht?«fragte Schwabe.

Urban betrachtete den Mann vor sich. Die Narben im Gesicht, die immer noch etwas deformierten Ohrmuscheln, der von einer Seitennarbe leicht nach links verzogene Mund. Urban faltete die Hände und schob die Unterlippe etwas vor.

«Sie waren einmal in Bernegg?«fragte er lauernd.

«Bis 1949. «Schwabe sah Urban ernst an.»Auch als die Amis einrückten, war ich da, Herr Oberarzt.«

Dr. Urban winkte ab. Man sah, daß er sich bemühte, die Peinlichkeit der Situation durch Großzügigkeit wegzuschieben.

«Lassen wir das. Wie heißen Sie eigentlich?«

«Schwabe. Erich Schwabe. Damals Zimmer B 14.«

«Schwabe?«Urban griff nach dem seitlich von ihm liegenden Aktenstück und blätterte darin herum.»Schwabe?«

«Ich mußte damals mit zerfetztem Gesicht vor Ihnen strammstehen und >Heil Hitler< rufen.«

Dr. Urban warf die Akte zur Seite, zurück auf den kleinen Beitisch. Sein schmales Gesicht war von Freundlichkeit überzogen.

«Ja, das waren Zeiten, nicht wahr?«sagte er breit.»Wenn wir damals nicht alle mitgemacht hätten, wäre es uns an den Kragen gegangen. Eine schreckliche Zeit war das. Ich erinnere mich ungern daran.«

«Das kann ich mir denken.«

«Ich finde Ihre Bemerkung unpassend, Herr Schwabe. «Dr. Urban stützte sich auf und erhob sich hinter dem Schreibtisch. Er stand jetzt da wie vor 18 Jahren, hochmütig, seiner Macht bewußt.»Ich habe nichts zu vergessen. Nur, damit Sie heute nacht besser schlafen können: Ich bin in einem ordentlichen Verfahren als Nichtbetroffener entnazifiziert worden und seit sieben Jahren Amtsarzt. Daß ich Offizier war, ist ja kein Verbrechen. Einer Ihrer Kollegen aus Bernegg, ein Herr Kaspar Bloch, hatte eine Klage gegen mich laufen. Sie ist abgewiesen worden. «Dr. Urban lächelte mokant auf Schwabe herab.»Als alter Bernegger sollten Sie das auch wissen, Herr Schwa-be, darum erzähle ich es Ihnen.«

Schwabe schwieg. Er sah Dr. Urban lange an, und Urban wußte, was Schwabe jetzt dachte. Er ging um den Tisch herum und stellte sich vor Schwabe auf.

«Man hat Sie vorgeladen wegen einer Neufestsetzung der Rente, nicht wahr?«sagte er mit dienstlicher Stimme.»Heben Sie das Gesicht mal gegen das Licht.«

Schwabe reagierte nicht auf den Befehl. Er blieb sitzen und starrte auf die unruhigen Hände Dr. Urbans.

«Na, dann nicht«, sagte der Arzt.»Ich sehe es auch so. Sie haben ja wieder ein fabelhaftes Gesicht bekommen. Professor Rusch ist ein Künstler.«

«Es hat mich bis heute 10.000 D-Mark gekostet«, sagte Schwabe dumpf.»Professor Rusch hatte das Geld ausgelegt, und ich habe es ihm zurückgezahlt. Der Staat, der mir das Gesicht genommen hat, hat 10.000 D-Mark verlangt, weil ich ein neues Gesicht habe.«

Dr. Urban trat zwei Schritte zurück und steckte die Hände in die Taschen des weißen Arztkittels.»Na und? Andere geben 10.000 DMark für Reisen, für Weiber, für Sauferei aus. Sie haben wenigstens für das Geld ein anständiges Gesicht bekommen.«

«Und jetzt will man die Rente niedriger setzen, weil mein Gesicht so gut aussieht.«

«Das wird sich nicht vermeiden lassen, Herr Schwabe. Die Kriegsschäden sind weitestgehend beseitigt. Wozu soll der Staat dann noch zahlen?«

«Ich habe diese Schäden mit meinem Geld, mit eigenen 10.000 DMark beseitigt«, schrie Schwabe plötzlich.»Soll ich jetzt dafür bestraft werden? Hätte ich meine Fratze behalten sollen?«

«Für die Rente wäre es von Vorteil gewesen.«

Schwabe schluckte ein paarmal. Es war ihm, als bliebe ihm die Luft einfach weg.»Ist… ist das der Dank des Vaterlandes?«stieß er hervor.

«Reden Sie nicht solchen Quatsch«, rief Dr. Urban grob.»Ich sehe aus Ihren Akten, daß Sie die Rente ja gar nicht brauchen. Es geht

Ihnen prächtig, auch finanziell. Es ist überhaupt eine Frechheit, hierher zu kommen und sich eine Rente zu erschleichen, wo Sie wieder aussehen wie ein Engelchen von Botticelli.«

Schwabe erhob sich langsam. Er nahm seinen Hut und drückte ihn gegen seine Brust.

«Sie waren immer ein Schwein, Urban«, sagte er ruhig.»Ich werde klagen.«

«Tun Sie das. «Dr. Urban lächelte verzerrt.»Mit diesem neuen schönen Gesicht werden Sie nie einen Ersatzanspruch erhalten.«

«Und meine 10.000 D-Mark?«

«Betrachten Sie sie als private Investition. Es hat Sie ja niemand amtlich aufgefordert, dieses Geld herzugeben. Wo kämen wir hin, wenn wir jede Schönheitsoperation bezahlen sollten?«