Dr. Urban senkte den Kopf.»Wann… wann darf ich kommen? Kol. «Er verschluckte den letzten Rest des Wortes.
«Von mir aus gleich. Nicht am Abend. Ich möchte wenigstens das Ende des Tages ohne Ihren Anblick genießen.«
«Gut. In zehn Minuten?«
«Von mir aus.«
«Vielleicht könnten Sie 15 Ampullen.«
«Zehn!«sagte Lisa Mainetti.»Und spritzen Sie sie sich auf einmal. Sie tun damit ein gutes Werk an uns allen.«
Ohne Antwort, mit schnellen Schritten, als flüchte er vor seiner Niederlage, rannte Dr. Urban dem Schloß zu.
Lisa Mainetti saß neben ihm, als Erich Schwabe aus seiner Besinnungslosigkeit erwachte. Sie waren allein im Zimmer. Die Stube B/14 hatte geschlossen Ausgang bekommen. Unter Führung eines Sanitätsfeldwebels waren sie ins Kino geführt worden, wo sie sich einen lustigen Film mit Marika Rökk ansahen. Lisa hatte es trotz vieler Bedenken mit großer Überredungskunst bei Professor Rusch durchgesetzt.
«Schwabe muß allein sein, wenn er aufwacht, und die anderen Jungs freuen sich wie die Kinder über den Kinobesuch. Es ist alles bestens organisiert: Ein Sanka bringt sie hin, und sie kommen ins Kino, auf die hintere Reihe, wenn der Saal schon dunkel ist. Am Schluß wird das Licht nicht eher angemacht, bis sie wieder draußen im Sanka sind. Es wird sie also niemand im Hellen sehen.«
«Auf deine Verantwortung. «Professor Rusch seufzte und lächelte dann.»Was könnte man dir abschlagen, Lisa? Aber eines ist klar: Offiziell weiß ich von nichts.«
Und so fuhr einer der Sanitätskraftwagen mit fünf leukoplastbepflasterten fröhlichen Soldaten in die nahe Stadt zum Kino. Dr. Lisa Mainetti aber setzte sich neben das Bett Schwabes, trug ihr Tagesjournal nach, schrieb einige OP-Berichte und wartete auf die kritische Sekunde, in der Schwabe die Augen aufschlug und merkte, daß er noch lebte.
«Warum habt ihr mich nicht sterben lassen.«, lallte Schwabe. Er lag mit gefalteten Händen und starrte in das schmale, braune Gesicht Lisas.»Es wäre doch alles so einfach gewesen.«
«Man stiehlt sich nicht weg aus dem Leben, mein Freund. «Dr. Mai-netti träufelte Schwabe etwas Obstsaft in die Öffnung zwischen den breiten Leukoplaststreifen, die sein Gesicht nach der neuen Wundversorgung wieder bedeckten.
«Wenn ich gefallen wäre.«
«Sie sind aber nicht gefallen! Und hier ist nicht Rußland, sondern tiefstes deutsches Vaterland.«
«Daß gerade Sie das sagen, Frau Doktor.«
«Ich liebe mein Vaterland. Und Sie sollten zuerst Ihr Leben lieben und glücklich sein, die Vögel vor dem Fenster zu hören und das Knak-ken der Äste und das Pfeifen des Windes.«
«Ein Leben ohne Gesicht.«
«Aber ein Leben! Wenn Sie damals bei Suwalki.«
«Es wäre besser gewesen, Frau Doktor. Besser für uns alle. «Schwabe wurde unruhig. Seine Hände fuhren über die Bettdecke, in seine Augen trat der Ausdruck neuen Entsetzens.
Meine Mutter wird kommen, dachte er. Mein Gott, sie wird mich nicht erkennen. Und meine Frau.
«Frau Doktor, sie darf mich nie wiedersehen, hören Sie, nie wieder! Und auch meine Mutter will ich nicht mehr sehen. schreiben
Sie ihr, telegrafieren Sie… sie soll zu Hause bleiben. Niemand will ich sehen, keinen. Und schreiben Sie meiner Frau, sie soll sich scheiden lassen. Sie. sie kann doch nicht. mit einem Mann. ohne Gesicht… mit.«
Er weinte haltlos, drehte den Kopf zur Seite und krallte die Finger in die Bettdecke.
Lisa Mainetti wußte nur zu genau, was in ihm vorging. Sie schwieg und ließ ihn sich ausweinen. Sie tupfte die Tränen von seinem ver-pflasterten Gesicht und von den Narben und angewachsenen Hautlappen, die eine neue Wange geben sollten.
«Keinen, keinen will ich sehen!«gurgelte Schwabe mit äußerster Anstrengung.»Ich sehe ja nicht mehr wie ein Mensch aus.«
«Noch nicht. «Lisa faßte vorsichtig mit beiden Händen den zitternden Kopf und drehte ihn zu sich herum.»Aber in einigen Monaten wird alles anders sein. Und in zwei oder drei Jahren sind Sie zwar noch keine Schönheit, aber keiner wird sich mehr abwenden.«
«Das sagen Sie nur, um mich zu trösten. «Die Augen Schwabes bettelten.»Belügen Sie mich nicht, Frau Doktor. Sagen Sie nur: Es wird nie wieder ein Gesicht. Sagen Sie mir alles. Einmal klappt es doch! Es gibt viele Möglichkeiten, sich umzubringen.«
«Dann werden wir Sie ab heute ans Bett fesseln, Schwabe! Seien Sie doch kein Schlappschwanz!«Der Militärton, den sich Lisa seit zwei Jahren angewöhnt hatte und der ihr den Ruf einer >männlichen Venus< eingebracht hatte, sprach Schwabe eher an als die tastende, milde weibliche Art. Sie sah es an seinen Augen.»Warum sollte ich Sie belügen? Natürlich wird es lang dauern! Und ein bißchen anders werden Sie immer aussehen als vorher. Es ist einfacher, einen Arm oder ein Bein zu amputieren und dann eine Prothese anzupassen, als eine Nase neu zu formen oder weggerissene Wangen zu ersetzen. Und wenn Sie wüßten, welche Arbeit es ist, Lippenrot neu zu erzeugen, würden Sie weniger dämlich daherreden. Aber das alles werden wir mit Ihnen machen, Professor Rusch und ich.«
Erich Schwabe starrte an die Decke des Zimmers.»Ursula wird sich nie damit abfinden«, sagte er kaum hörbar.
«Sie wird!«
«Ich könnte keinen Menschen lieben, der. der. so aussieht wie ich… wie ein Ungeheuer… wie ein… ein.«
«Sie sind keine Frau, Schwabe. Wie können Sie empfinden, was in einer Frau vorgeht?«
«Ursula liebt so sehr alles Schöne. und nun komme ich und.«
«Sie sind doch der geblieben, der Sie waren.«
«Nein!«schrie Schwabe.»Nein! Ich habe mich doch selbst gesehen. Ich habe mich doch vor mir selbst geekelt! Ich bin vor mir erschrocken! Vor Angst und Grauen vor meiner entsetzlichen Fratze habe ich geschrien.«
«Und in einem Jahr werden Sie vor einem großen Spiegel stehen, sich ansehen und sich selbst ohrfeigen können, wenn Sie an das denken, was Sie jetzt getan und gesagt haben.«
«Das sind alles nur Worte, Frau Doktor!«Schwabe wandte seinen Kopf ab.»Ich werde Mutter sagen, daß ich nie wieder zurückkomme nach Köln. Ich bin doch gar nicht mehr der Erich Schwabe.«
«Auch darüber werden wir uns noch unterhalten. «Lisa Mainetti zog eine 2-ccm-Spritze auf. Es war eine wasserhelle Flüssigkeit, die sie in den Glaskolben saugte. Scopolamin hydrochloric.»Wir werden jetzt erst einmal ganz ruhig sein und warten, bis die Sonne wieder scheint. Auch daran sollten Sie einmal denken, Schwabe: Es scheint immer wieder die Sonne. So, und jetzt zeigen Sie mir mal Ihre linke Hinterbacke.«
Später schlief Erich Schwabe wieder, mit gefalteten Händen, als läge er aufgebahrt. Er hörte nicht die Rückkehr seiner Stubenkameraden und die Kommentare zum Kinoausflug.
«Det war'n Ding«, sagte der Berliner und setzte sich auf sein Bett.»Habt ihr die Kleene jesehn, auf der Hauptstraße? 'ne Wolke, wat?«
«Elemisch könnt' ma werdn!«schnaufte Wastl Feininger.
«Es heißt elegisch«, verbesserte der Stubenälteste Adam.
«Scheiß drauf!«schrie Feininger und zog seine Hose aus.»Jetzt allein ins Bett. is a Straf aus 'm Fegefeuer.«
«Halt 's Maul! Der Erich.«
Wie auf ein Kommando sahen sie zur Ecke zum Bett Schwabes. Dort rührte sich nichts. Adam ging zu ihm hin und zog die etwas verrutschte Decke hinauf bis zum Kinn.
«Einer von uns muß abwechselnd Wache halten«, sagte er, als die anderen in den Betten lagen und Feininger dumpf brummte:»Ich verlang' morgen mehr Soda ins Fressen. «Fritz Adam winkte energisch ab.»Der springt uns aus dem Fenster, wenn er wach wird.«
Sie waren gerade dabei, die Wachen auszulosen, als Schwester Dora Graff ins Zimmer kam. Sie hatte vier Stunden geschlafen und von dem dicken Verwaltungs-Oberstabsarzt eine Sonderzuteilung erhalten: Ein viertel Pfund Gehacktes, zwei Bouillonwürfel für eine Suppe und ein Klümpchen Butter. Das wichtigste aber waren Kaffeebohnen. Eine kleine Tasse voll. Sie rochen schon etwas muffig, aber sie gaben noch eine Kanne guten Kaffee ab, deren Duft sogar die Ordensschwestern anlockte.