«Ins Bett, marsch!«sagte Dora Graff und zog sich einen Stuhl neben das Bett Schwabes.»Und das Licht aus!«
«Jawoll, Püppchen!«sagte Feininger und schnaufte wieder.»Wenn i heut nacht seufz', denk' i an di.«
Der Berliner knipste das Licht aus. Auf nackten Sohlen tappte er zurück zu seinem Bett.
«Wenn Se schlafen wollen, Schwester, ick hab' noch Platz im Bett.«
Dora Graff lächelte vor sich hin. Sie legte eine Taschenlampe auf den Nachttisch und stellte den Strahl so, daß er von der Wand reflektiert wurde. In diesem schwachen Licht las sie einen Roman und warf ab und zu einen Blick auf Schwabe.
In der anderen Ecke begann Feininger laut zu schnarchen. Auch die ruhigen Atemzüge der anderen verrieten, daß sie schliefen. Nur Adam lag noch wach und sah aus seiner schützenden Dunkelheit hinüber zu Dora Graff. Ihr blondes Haar, das unter der kleinen, weißen Schwesternhaube hervorsah, leuchtete wie ein Goldreif im schwachen Schein der Taschenlampe. Das schöne, runde Gesicht hatte die junge Schwester im Widerschein der Lampe tief über die Buchseiten geneigt, um in der kargen Beleuchtung lesen zu können.
Wie das Gemälde eines alten Meisters, sinnierte Adam. Er nagte an der Unterlippe und dachte an eine Wohnung in Braunschweig. Ein großes Haus in einem Park. Ein schlankes, weißblondes Mädchen mit großen Augen und einem verführerischen Mund. Tochter des Fabrikanten Wollenz, dreiundzwanzig Jahre alt und verheiratet mit dem Medizinstudenten Fritz Adam aus Heidelberg. Vor einem Jahr war es gewesen. Ganz plötzlich, in einem Urlaub bei seinem Onkel. Eine Kriegstrauung, ein paar verliebte Nächte, ein seliger Traum vom Glück, und schon der Abschied. Und dann hinter Minsk eine Granate mitten in den Hauptverbandsplatz. Neununddreißig Tote und siebenundzwanzig Verletzte, darunter der Medizinstudent Fritz Adam, dem ein glühender Granatsplitter das Ohr, die Wange und die Nase wegrasiert hatte.
Seitdem hatte er Irene Adam, geborene Wollenz, nicht wiedergesehen. Sie wußte gar nicht, daß er auf Schloß Bernegg lag. Er hatte nicht mehr geschrieben. Ihre Briefe, die man ihm von der alten Feldpostnummerstelle nachschickte, zerriß er ungelesen und warf sie in das Klo. Er wollte nichts mehr wissen von dem Glück außerhalb der hohen Mauern Berneggs. Erst wollte er sein Gesicht wiederhaben. Welch ein Sinn lag darin, Irene nach Bernegg kommen zu lassen und ihr die Fratze des Krieges im zerstörten Gesicht ihres Mannes zu zeigen? Sie lebte in der elterlichen Villa und mußte glauben, er sei vermißt.
Fritz Adam sah hinüber auf den gesenkten Kopf Dora Graffs und die goldblonden Haare unter der weißen Haube. Wie nötig haben wir eine Frau, dachte er. Wie könnte sie uns hinweghelfen über die nach Antwort flehenden Fragen, über die seelischen Aufschreie, die uns innerlich zerreißen, über das Grauen der Unabwendbarkeit, in das man uns gestoßen hat. Wie herrlich wäre eine Frau.
Aber wir haben Angst.
Angst vor ihrem entsetzten Blick.
Angst vor ihrem Mitleid.
Angst vor ihrem versteckten Ekel.
Angst vor einer geheuchelten Liebe.
Fritz Adam drehte den Kopf zur Seite in das Kissen und schloß die Augen. Er wollte seine Schwäche nicht sichtbar werden lassen.
Er biß sich in die geballten Fäuste, und so schlief auch er endlich ein.
Das Telefon schrillte.
Lisa Mainetti schreckte hoch. Sie hatte sich nach einer anstrengenden Operation gerade hingelegt und schwebte in einem Zwischenstadium von Wachen und Träumen. Vier Stunden hatte sie neben Professor Rusch und Dr. Urban am >Schrägen< unter der heißen OP-Lampe gestanden. Professor Rusch hatte einen neuen Unterkiefer gebildet, und solange er operierte, kannte Lisa keine Müdigkeit, sondern nur die Faszination, die sie ergriff, wenn sie Ruschs Hände arbeiten und ein neues Gesicht formen sah. Erst nachher war es, als habe sie einen Keulenschlag gegen die Stirn erhalten. Sie war hinausgeschwankt, auf ihr Zimmer gegangen und hatte sich auf ihr Bett fallen lassen. Das Telefon schrillte wieder.
Sie hob den Hörer ab und meldete sich. Der Wachhabende an dem Hauptportal meldete sich. Es war ein Unteroffizier von der Ersatzkompanie.
«Hier sind zwei Frauen, die wollen ins Lazarett«, sagte er.»Sie sagen, sie seien hier angemeldet, und Sie wüßten Bescheid, Frau Doktor.«
«Ich habe keine zwei Frauen bestellt. «Lisa Mainetti setzte sich ärgerlich auf und knöpfte den Büstenhalter zu, den sie beim Hinlegen geöffnet hatte. Dabei klemmte sie den Telefonhörer zwischen Kinn und Halsbeuge.»Zu wem wollen die denn?«
Sie hörte den Wachunteroffizier mit jemandem sprechen, dann sagte er laut:
«Sie sagen, sie heißen Schwabe. Ein Erich Schwabe liege bei Ihnen.«
«Ich komme gleich. «Lisa sprang auf. Plötzlich war sie hellwach. Die bleierne Abgespanntheit wich von ihr.»Halten Sie die beiden Frauen auf der Wache fest, hören Sie, Unteroffizier? Lassen Sie sie nicht ins Lazarett! Und vor allem dürfen sie keinen Blick aus dem Fenster in den Garten werfen. Ich mache Ihnen die Hölle heiß, wenn irgend etwas falsch läuft!«
«Verstanden, jawoll!«rief der Unteroffizier zackig. Es war seit zwei Jahren bekannt, daß der beste Kommandoton im Lazarett von Dr. Lisa Mainetti stammte. Der Chefarzt konnte brüllen — das kannte man vom Kasernenhof und schluckte es wie lauwarme Suppe. Aber wenn die Frau Doktor brüllte, wurden die Knie weich. Man schämte sich, von einer Frau >zur Sau gemacht< zu werden.
Schnell zog sich Lisa an, ordnete ihre langen, schwarzen Haare und legte sogar einen Schimmer Lippenrot auf. Wieso zwei Frauen? dachte sie. Ist die kleine Frau Ursula doch mitgekommen? Noch bevor Lisa sie gesehen hatte, empfand sie großes Mitleid mit ihr. Sie durfte ihren Mann nicht sehen.»Ich renne mit dem Kopf gegen die Wand, wenn Sie zulassen, daß meine Frau mich sieht!«hatte Schwabe noch gestern gesagt.»So schnell, wie ich an der Wand bin, können Sie gar nicht zufassen!«
Und Lisa Mainetti hatte ihm in die Hand versprochen, nur die Mutter zu ihm zu lassen, und auch erst, nachdem sie ihr alles erklärt hatte.
In der Hauptwache saßen Frau Hedwig Schwabe und ihre Schwiegertochter in einer Ecke, die von der fensterlosen Wand und zwei Spinden gebildet wurde. Davor stand, als bewachte er sie, der Unteroffizier und knallte die Hacken zusammen, als Dr. Mainetti in das Wachzimmer trat. Er hatte auf alle Fragen, die die beiden Frauen ihm gestellt hatten, keine Antwort gegeben, bis Frau Hedwig Schwabe sich resignierend hinsetzte und die Hand ihrer Schwiegertochter nahm.
«Nur ruhig, Ursel«, sagte sie, aber so laut, daß es alle in der Wachstube hörten.»Die Ärzte werden höflicher sein als dieser grobe Bursche.«
Nun war der Arzt da, sogar eine Ärztin, und Frau Schwabe sprang auf und rannte Lisa entgegen.
«Kann ich meinen Sohn sehen?«rief sie.»Erwartet er mich? Ich habe seine Frau doch mitgebracht, auch wenn er schrieb. Ist ja Dummheit, so etwas zu schreiben, nicht wahr, Frau Doktor? Ich bin seine Mutter, und was ich sehen darf, kann auch seine Frau sehen. Ursula ist ein tapferes Frauchen, dreimal hat sie sich aus dem verschütteten Keller herausgewühlt wie ein Maulwurf.«
Hier nützt kein Maulwurf etwas, dachte Lisa und sah hinüber zu Ursula Schwabe. Sie stand neben dem Spind, mit großen, fragenden, blauen Augen, in denen schon jetzt Angst und Entsetzen standen. Ihr voller Mund zuckte, und die blonden Haare waren zerwühlt, weil sie mit den Fingern nervös immer wieder durch die Strähnen fuhr.
«Wir haben ihm einen Kuchen mitgebracht. Aus der ganzen Nachbarschaft haben wir uns Brotmarken gebettelt und Mehl gekauft. Sogar Rosinen… die aß Erich so gerne. Und eine Wurst haben wir auch mitgebracht, eine Schmierwurst, die braucht er nicht zu kauen, wenn ihm das Kauen noch weh tut und… und.«
Der Redefluß Hedwig Schwabes versiegte. Fragend sah sie Lisa Mai-netti an, deren Stummheit ihr plötzlich nicht geheuer vorkam.