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Erich Schwabe stieß den Kopf vor. Fliegeralarm, dachte er. Das haben sie geübt, die Kinder hinter mir im Schlitten. Das kennen sie, damit sind sie groß geworden. Früher spielte man im Garten Verstecken. heute lernt man: Fliegeralarm. Er riß den Kopf herum. Er sah in vereiste Gesichter, in junge, müde Augen unter weißen Stahlhelmrändern, in Blicke, die ihn anstarrten wie erfrorene Klagen.

«Fliegeralarm!«schrie Schwabe in diese Kindergesichter hinein. Sein schreiender Atem wehte weiß über sie hinweg.»Fliegeralarm!«

Wie ein Schlag ging es durch die zusammengeduckten Gestalten. Ein Bruchteil der Sekunde zögerten sie, dann stürzten sie sich aus dem fahrenden Schlitten kopfüber seitlich in den Schnee, überschlugen sich, rollten den Hang hinab oder vergruben sich mit Beinen und Armen in den Verwehungen. Der nachfolgende zweite Schlitten bremste scharf, schleuderte zur Seite, drehte sich und brach von der Straße aus.

«Ist der Schwabe verrückt geworden?«schrie Unteroffizier Plotzke. Er versuchte, seinen Schlitten wieder auf die Straße zu bringen. Der dritte und vierte Schlitten, weit zurück, bremsten, schleuderten, kamen aber zum Halten. Der junge Leutnant stand aufrecht neben den Handgranatenkästen und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. Niemand verstand ihn, aber man sah, daß er Kommandos brüllte.

«Der macht 'ne Felddienstübung, der Vollidiot!«schrie Plotzke wieder.»Alle Mann in Deckung! Dem ist wohl das Gehirn vereist!«

Die Jungen des ersten Schlittens wälzten sich im Schnee. Erich Schwabe hockte allein hinter seinem Steuer und preßte es nach links. Nur fünf Zentimeter dran vorbei, das reicht, dachte er. Ich könnte abspringen wie die anderen… aber wir brauchen den Schlitten! Jede Stunde kann der Mist da vorne wieder losgehen. Dann ist ein Schlitten vielleicht die letzte Rettung, die letzte Fahrkarte in die Heimat, in den Frieden, zu Ursula.

Der Eispickel raste näher. Hüpfend jagte der Schlitten die Straße hinab. Schwabe bremste, aber nichts unter ihm griff mehr ins Eis. Die stählernen Zinken waren abgebrochen. Auch die Lenkung flatterte in Schwabes Händen, er drehte sie nach links, in wilder Verzweiflung und aus der Tiefe seiner Seele plötzlich aufschreiend. Aber der Schlitten raste geradeaus.

'raus! schrie sich Schwabe zu. Jetzt 'raus! Er ließ das Lenkrad los, warf sich zur Seite und schnellte sich vom Führersitz. Halb aus dem Schlitten hängend, spürte er einen Widerstand an seinen Füßen. Er sah zurück und merkte, daß sich die weißen Tarnhosen am Pedal der Fußbremse festgehakt hatten. Verzweifelt zerrte und riß er an dem Hosenbein, der Stoff zerfetzte, noch einmal stemmte er den Fuß auf, um sich weit weg aus dem Schlitten zu schnellen.

In dieser Sekunde, diesem letzten Wimpernzucken, sah er die kleine Eiserhebung vor sich, sein Blick wurde starr und gelähmt vor Entsetzen. weiter kam er nicht, zu keinem Gedanken, keinem Aufschrei, keiner Abwehr der Hände. um ihn brach die Erde auf, er roch noch das heiße, aufspritzende Benzin, es war ihm, als tauche man sein Gesicht in siedendes Öl, dann wußte er nichts mehr.

Mit offenen Mündern lagen die Jungen im Schnee und sahen den Schlitten hoch in die Luft fliegen. Unteroffizier Plotzke reagierte schnell… er ließ seinen Schlitten einfach umkippen, indem er ihn rechtwinklig herumriß. Der junge Leutnant im Munitionsschlitten stand noch immer hochaufgerichtet, mit erhobenen Armen. Wie ein Standbild, das die Gnade des Himmels herabbeschwört auf eine Welt, die in Rauch und Feuer aufgeht.

Dann sank die Explosionswolke zusammen. Nasser, klebriger Schnee, Erd- und Eisbrocken bedeckten in weitem Umkreis die Unglücksstelle. Dazwischen die Trümmer des Schlittens I, ein Haufen zerrissenes Metall und Holz.

«Der… der Feldwebel.«, stotterte einer der Jungen. Er lag auf den Knien und hatte die Hände flach gegen die Brust gedrückt.»Schwabe war doch noch im Schlitten.«

Sie sprangen auf und rannten zu den Trümmern. Von Schlitten II stolperten Unteroffizier Plotzke und seine Mannschaft die Straße hinab.

«Der ist erledigt.«, stammelte Plotzke im Laufen.»Schwabe ist erledigt.«

In seinen Augenwinkeln brannte es.

Er stieß die jungen Ersatzsoldaten zur Seite, die verängstigt und ratlos herumstanden.

«Dort ist er!«schrie einer grell.»Dort, unter dem Motor!«

Plotzke warf sich in den Schnee. Er kroch an die blutige, mit Benzin und Öl übergossene Masse Mensch heran und schob seine Hand irgendwohin auf ein Stück nackte Haut.

«Er atmet noch!«schrie er.»Hebt den Motor weg, ihr Flaschen! Alle Mann an den Motor.«

Als sie Schwabe frei hatten, stand auch der Leutnant blaß neben den Trümmern. Die 57 jungen Soldaten, das Grauen in den Augen, umringten ihn. Nur Plotzke kniete noch neben der blutigen Gestalt im Schnee.

Schwabe lag auf dem Rücken, den Kopf auf einem Brett, und alle sahen es: Er hatte kein Gesicht mehr. Dort, wo einmal Nase, Mund, Kinn und Ohren waren, hatte eine glühende, eiserne Faust mit einem Schlag alles zerstört. Eine formlose, breiige Masse war übriggeblieben, mit blonden Haaren darüber und einem Rumpf darunter in zerfetzter Uniform. Wie abgehobelt war das Gesicht, ein roter Teller mit einigen Löchern. Weiter nichts.

«Er lebt.«, sagte Plotzke leise.»Er lebt wirklich noch.«

«Es wäre besser, wenn. «Der Leutnant sprach den Satz nicht zu Ende. Unteroffizier Plotzke tastete nach einer Pistole. Er war gelb im Gesicht, er würgte nach Luft und zitterte wie im Fieber.

«Lassen Sie das, Plotzke«, sagte der Leutnant leise.»Auch wenn es besser für ihn wäre.«

«Er… er ist doch kein Mensch mehr.«, stammelte Plotzke.

Der Leutnant deutete auf Schwabe:

«Seht ihn euch genau an! Das ist das Gesicht des Krieges. so sieht es aus, das Heldentum, dessen Lieder man uns in der Schule mit ergriffener, bebender Stimme lehrte! Seht es euch an!«

Dann wandte er sich ab und ging langsam zu seinem Schlitten zurück. Die jungen Soldaten hoben den Körper Schwabes auf und trugen ihn vorsichtig zum zweiten Schlitten. Dort legte ein Sanitätsgefreiter einige Lagen Zellstoff auf die blutige Masse und wickelte vier Papierbinden um den Kopf.

Plotzke war zurückgeblieben. Er beugte sich über den zerfetzten Schlitten und würgte erneut. Endlich erbrach er sich, und gleichzeitig mit dem Kotzen spürte er die Erleichterung, weinen zu können.

«Wo bin ich?«fragte Erich Schwabe.

Wenigstens war es ihm, als ob er das fragte. Der Gedanke war da, und er hörte sogar seine Stimme. Aber der Sani, der neben seinem Bett saß, hörte nur ein Lallen, ein unartikuliertes Stöhnen, ein Zischen und Röcheln aus den Falten des Verbandes. An Form und Körperlage wußte man, daß es ein Kopf war. Ein dünnes Röhrchen, eine Sonde, stak mitten in den durchbluteten Mullbinden. Dort muß der Mund drunter sein, dachte der Sani. Eine große Höhle, in der verwunderlicherweise ein Stückchen bewegliches Fleisch liegt, die Zunge. Sie hat er behalten dürfen neben den Augen.

Schwabe öffnete die Lider. Die Verbände drückten auf die Augen, und die Dunkelheit um ihn blieb, auch als er wußte: Jetzt habe ich die Augen auf. Er hob die Hand und wollte nach seinem Kopf tasten, aber eine andere Hand hielt sie plötzlich fest und drückte sie zurück auf die Bettdecke.

«Was ist mit mir?«fragte Schwabe etwas lauter.»Bin ich blind? Jungs. sagt mir doch, was mit mir los ist.«

Der Sanitäter hörte wieder das Zischen und Röcheln durch die Verbände. Er beugte sich über den Kopf und sagte ganz langsam und klar:

«Du bist jetzt in Suwalki, Kamerad. Im Lazarett. In Sicherheit. Mit einer Mine bist du hochgegangen. Und Glück haste gehabt… brauchst dir keine Sorgen zu machen. Die Augen sind noch da, die Zunge und auch sonst noch manches. Nur 'n paar Schrammen über die ganze Fresse… das heilt bald. Allerdings mußte noch ein paar Tage im Dunkeln liegen. Und in die Heimat kommste auch. Wir warten nur auf den nächsten Lazarettzug! Wenn der Iwan wieder wild wird, biste längst bei Muttern. «Der Sanitäter schwieg und wartete auf ein neues Wimmern aus den Verbänden. Als nichts kam, faßte er den Puls Schwabes und beugte sich über den unförmigen Kopf.