«Mein lieber, lieber Junge«, sagte sie zärtlich und küßte Erichs Augen.»Bis morgen! Ich werde Ursula sofort schreiben, wie gut es dir geht.«
Es klopfte. Schwester Dora Graff kam herein, um Erich Schwabe abzuholen.
«Ich werde ihr auch schreiben, Mutter. «Schwabe lehnte den Kopf auf die Schulter der Mutter.»Und danke schön, Mutter… für alles, für alles… alles… bin jetzt so froh.«
Er riß sich los, und ohne sich noch einmal umzublicken, verließ er mit Dora Graff das Zimmer.
Als die Tür hinter ihm zuklappte, vernahm Dr. Mainetti hinter sich einen tiefen Seufzer. Ehe sie zuspringen konnte, sank Frau Schwabe auf das Bett und drückte den weißhaarigen Kopf in die Kissen.
«Erich!«schrie sie in das Kissen.»Mein Junge! Mein Junge!«
Dann weinte sie, endlich befreit von allem Zwang, dem sie sich zwei Stunden gebeugt hatte. Nun fand das Grauen auch zu ihr, und ihr war, als zerreiße es ihr das Herz.
Dr. Mainetti ließ sie weinen. Sie setzte sich sacht neben sie auf das Bett und wartete, bis die alte Frau den Kopf hob.
«Sie waren unendlich tapfer«, sagte sie.
Frau Schwabe schüttelte den Kopf.»Glauben Sie, daß er nichts gemerkt hat?«schluchzte sie.
«Bestimmt nicht. Sie haben mehr zu seiner Heilung beigetragen als hundert Medikamente.«
«Wird er. wird er jemals wieder ein Gesicht bekommen, Frau Doktor?«
«Ja. Wir werden alles versuchen. Haben Sie ein gutes Foto von Ihrem Sohn? Wir wollen uns bemühen, sein Gesicht so ähnlich wie möglich wiederherzustellen.«
Frau Schwabe trocknete ihre Tränen ab. Ein Gedanke nahm jetzt von ihr Besitz, der ihre ganze mütterliche Kampfbereitschaft aufrief und keinen Platz für Trauer oder Entsetzen ließ.
«Was wird Ursula, seine Frau, sagen, wenn sie ihn so sieht?«fragte sie.»Was soll ich ihr sagen, Frau Doktor?«
«Die Wahrheit. Ich habe mit der kleinen Frau gesprochen. Während wir dachten, sie sitzt sicher in der Wachstube, ist sie spazierengegangen und hat einige der Gesichtsverletzten durch Zufall gesehen. Sie hat sich besser benommen, als ich erwartet habe. Sie will ihren Mann sehen.«
«So nicht!«Frau Schwabe hob beide Hände.»Ich lasse das nicht zu, Frau Doktor!«
«Sie will warten. Vielleicht in zwei oder drei Monaten wird es möglich sein. «Dr. Mainetti legte die Hände zusammen.»Sie haben jetzt zwei große Aufgaben, Frau Schwabe. Sie müssen Ihrem Sohn die Zukunft schenken, indem Sie ihn belügen. Und Sie müssen auf Ihre Schwiegertochter achtgeben, daß sie an diese Zukunft ebenso fest glaubt wie Ihr Sohn. Es wird nicht leicht sein, ich kenne das aus vielen Fällen. Für Sie bleibt Erich immer Ihr Kind. aber die kleine Frau wird sich nächtelang den Kopf zergrübeln, ob es möglich ist, mit einem Mann ohne Gesicht für immer zusammen zu leben. Sie ist noch jung, ihr Leben als Frau hat eben erst begonnen. Es wird für sie unendlich schwerer sein als für Sie als Mutter, sich an einen Anblick zu gewöhnen, der einem ständig einen Stich ins Herz gibt. Sie werden eine schwere Aufgabe haben.«
«Ich weiß. «Frau Schwabe holte die Tasche unter dem Bett hervor und packte sie aus. Den Kuchen, die Wurst, die Plätzchen. Abgehungert von den wenigen Lebensmittelmarken, erbettelt von den Nachbarn.
«Geben Sie es den Jungen, die wieder richtig kauen können«, sagte sie stockend.»Darf ich morgen wiederkommen?«
«Aber natürlich.«
«Ich brauche Ursula nichts zu sagen?«
«Nein. Sie weiß alles.«
Sie gingen durch die langen Gänge bis zu dem kleinen Wartezimmer neben dem Verbandsraum. Dort wartete Ursula, auf einem Schemel hockend. Ihr Gesicht hatte man ganz mit Salbe beschmiert, und über ein paar der abgeschrammten Stellen klebte Leukoplastpflaster.
Frau Schwabe fragte nicht, was geschehen war. Sie faßte Ursula unter und zog sie mit sich fort.»Komm, Kindchen!«sagte sie nur.»Wir bleiben noch eine Woche in Bernegg.«
«Was macht… wie geht es Erich?«stammelte Ursula. Ihre Fingernägel gruben sich in Frau Schwabes Arm.»Wie sieht er aus?«
«Gut.«
«Gut?«
«Er hat drei Pfund zugenommen.«
«Aber sein Gesicht, Mutter.«
«Ach was!«Frau Schwabe schüttelte energisch den Kopf.»Es wird viel zuviel darüber geredet! Natürlich sieht es nicht schön aus, die Frau Doktor hat es dir ja gesagt. Aber in ein paar Monaten ist alles wieder gut!«
Ursula Schwabe schwieg. Sie dachte an die Männer, die sie über die Mauer hinweg gesehen hatte. Fratzen wie aus wilden Fieberträumen geboren. Sie wußte, daß die Schwiegermutter sie belog. Jetzt wußte sie es genau. Aber sie nahm es ihr nicht übel. Vielleicht würde ich sie auch belogen haben, wenn ich Erich zuerst gesehen hätte, dachte sie. Und sie schloß die Augen und sah Erichs Gesicht vor sich: ein fröhliches, lachendes Gesicht mit wirren blonden Haaren und einem männlichen, ein wenig sinnlichen Mund. Und dann zog eine Wolke über das lachende Gesicht, und als die Wolke sich verflüchtigte, war es ein Kopf ohne Konturen, der zurückblieb: Augen, nur die Augen inmitten einer narbigen, roten, zerrissenen Fläche. Und darüber die wirren blonden Haare -
Vor dem Schloß brach Ursula ohnmächtig zusammen und hing am Arm Frau Schwabes. Ein Kübelwagen der Wehrmacht brachte sie hinunter zum Ort Bernegg, wo man die Ohnmächtige in das Gasthofzimmer trug und der alte Landarzt ihr eine herzstärkende Injektion gab.
Erich Schwabe saß unterdessen glücklich auf seinem Zimmer und schrieb einen Brief an seine Frau.
«Liebste Uschi!«schrieb er.
«Mutter war hier, und sie wird Dir erzählen, wie es mir geht. Ich hatte solche Angst, Dich zuerst zu sehen… bitte, verzeih mir. Aber jetzt, wo Mutter sagt, daß alles halb so schlimm ist, sollst Du kommen. Nun will ich Dich sehen und auch von Dir hören, daß Du mich immer lieben wirst.«
Dann sah er zufrieden aus dem Fenster. Unten, im Tal, unterbrochen durch die Baumkronen, sah er die Dächer von Bernegg. Auch das Dach des Gasthofs, in dem Ursula Schwabe gerade ihre herzstärkende Injektion erhielt.
Zwei Tage vor Weihnachten wurde ein neuer Patient eingeliefert. Dr. Mainetti, die an diesem Abend Arzt vom Dienst war, wurde aus ihrem Zimmer zur Aufnahme gerufen. Im Kleinen Verbandsraum saß ein junger Soldat auf einem Hocker. Neben ihm stand ein zweiter Soldat mit verkniffenem Gesicht, in der Faust ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett.
Er sah verwundert auf die Ärztin, die in den Raum trat und ihn wie ein Feldwebel musterte. Dann wandte sich Dr. Mainetti dem Jungen zu. Er hatte eine Kieferklemme im Mund und sah mit einem fast hündisch flehenden Blick zu ihr auf, nackte Angst in den Augen.
Der Schreibstubensanitäter, der die Aufnahme eintragen mußte, saß an einem kleinen Tisch am Fenster. Er kannte Dr. Mainetti seit zwei Jahren. Er schwieg, während sich der Mann mit dem Bajonett räusperte und, den Blick zu ihm gewandt, mit einer Kopfbewegung auf die Ärztin wies.
«Sie brauchen gar nicht wie ein Asthmatiker zu röcheln!«sagte Dr. Mainetti laut. Sie begann das Kinn des jungen Soldaten abzutasten. Dabei bemerkte sie, daß der Junge eine Uniform ohne Schulterstücke trug. Sie war alt, zerschlissen und am Kragen durch Blutspritzer be-fleckt.
«Im übrigen — was machen Sie hier im Behandlungszimmer?«fragte Dr. Mainetti den Begleitsoldaten.»Sie haben vor der Tür zu warten!«
«Irrtum!«Der Mann mit dem Bajonett grinste breit.»Ich bleibe hier! Ich muß bei der Behandlung dabeisein.«
«'raus!«schrie Dr. Mainetti.»Und zwar flott!«
«Ich habe den Befehl von meinem Kompaniechef!«Der Wachmann blieb stehen und senkte wie ein Stier den Kopf.
«Ihr Kompaniechef geht mich einen Dreck an! Hier bin ich der Chef! Wenn Sie nicht sofort gehen, lasse ich Sie hinauswerfen!«
«Na so was! Ein Weib, das wild wird!«Der Soldat wandte sich an den Sanitäter, der still an seinem Tisch saß.»Kumpel! Hol mir mal den wachhabenden Arzt! Dem werd' ich was flüstern!«