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«Der Fall ist doch klar!«rief er und warf die Krankengeschichte Blochs auf den Tisch zurück.»Der Lümmel simuliert! Der kann so gut hören wie wir alle. Aber ich garantiere dafür, daß ich ihn überführe! Das wollen wir doch mal sehen!«

So kam Kaspar Bloch auf das Zimmer 14. Der Ruf, ein unangreifbarer Simulant zu sein, lief ihm voraus. Mit Spannung wartete die Stube 14 darauf, wie er sich benehmen würde, wenn der Wastl Feininger einen seiner knalligen Witze losließ. Bei nur einem halbwegs intakten Gehör war es einem unmöglich, nicht die Miene zu verziehen.

Kaspar Bloch bestand die Prüfung. Er saß am Tisch und spielte Schach, als der Wastl begann, ein Erlebnis aus der Sennhütte zu erzählen. Es wurde der deftigste Witz, den die Stube 14 je gehört hat-te.

«So ein Saustück!«keuchte Paul Zwerch und hielt sich den Bauch.»Den muß ick vajessen, sonst träum' ick davon.«

Ruhig lächelnd saß Kaspar Bloch vor seinem Schachbrett und wartete geduldig, bis sich das Lachen seiner Kameraden gelegt hatte. Kein Muskel seines Gesichtes hatte sich verzogen, Fritz Adam hatte es genau beobachtet.

«Der hört wirklich nichts!«sagte er, als es wieder still im Zimmer wurde.»So kann sich kein Mensch beherrschen. Von wegen Simulant… das ist wieder so eine Mistigkeit von dem Nazi-Urban!«

Am Abend, wenn die Lichter gelöscht waren und die anderen schliefen, lag Kaspar Bloch noch wach und starrte ins Dunkel.

Vierzehn Monate, dachte er, vierzehn Monate habe ich durchgehalten. Und ich werde weiter durchhalten, bis dieser Mist hier vorbei ist.

Manchmal war es fast unmöglich, zu tun, als hörte ich nichts.

Vor allem damals, als sein Vater zu Besuch kam, der Professor der Psychiatrie Dr. Thomas Bloch. Man hatte ihm nicht gesagt, daß sein Sohn das Gehör verloren hatte, und er kam mit ausgestreckten Armen auf seinen Sohn zu und sagte:»Ich soll dich herzlich von Mutter grüßen und dir von ihr diesen Kuß geben!«Und Kaspar Bloch mußte mit fragender Miene dastehen, als habe er nichts verstanden, während sein Herz schrie und die Rührung in ihm hochstieg. Aber er sah die scharf beobachtenden Augen der ihn umstehenden Ärzte, und er hob die Schultern, zeigte auf seine Ohren und hätte aufschreien können über den entsetzten Blick seines Vaters, den er betrügen mußte wie alle um sich herum.

Dreimal hatte Dr. Urban versucht, Kaspar Bloch zu überführen. Es war mißlungen. Sogar das letztemaclass="underline" Dr. Urban hatte zu einem Sanitäter gesagt, als Bloch an ihnen vorbeiging:

«Ach, da ist ja der Bloch! Michel, überlegen Sie mal, wie man dem armen Jungen schonend beibringen kann, daß man seinen Vater wegen Wehrkraftzersetzung vorgestern oder vor drei Tagen verhaftet hat.«

Kaspar Bloch war nicht zusammengezuckt. Er war weitergegangen, ohne den Bruchteil einer Sekunde im Schritt zu zögern. Erst auf der Toilette hatte er sich gegen die kalten Kacheln gelehnt und sich die Lippen blutig gebissen. Drei Tage lang ging er durch die Hölle der Ungewißheit, drei Nächte lag er wach und grub die Fingernägel in die Handflächen. Dann kam ein Brief von seinem Vater, in dem er schrieb, daß es allen gut gehe. Da löste sich seine Spannung, und er weinte eine ganze Nacht, die Decke an sein Gesicht gedrückt, damit es niemand im Zimmer hörte.

«Der Kerl simuliert doch!« sagte Dr. Urban später am Tisch des Chefarztes.»Ich werde schon was finden, was ihn umhaut. Lassen Sie nur erst einmal Weihnachten kommen. Ich habe da so einen Plan.«

«Ob Sie mich hören können oder nicht«, sagte Dr. Lisa Mainet-ti später zu Kaspar Bloch,»interessiert mich nicht. Nur passen Sie an Weihnachten auf. Verlieren Sie nicht Ihre Ruhe. Was man auch sagen wird. es ist nicht wahr!«

Kaspar Bloch stand im Vorzimmer zum OP und drehte Tupfer aus Mull. Man hatte ihn zu solchen kleinen Hilfeleistungen herangezogen. Während Lisa mit ihm sprach, sah er sie freundlich, aber bewegungslos an, als höre er wirklich nichts. Nur in seinen Augen glomm ein Funken auf, als Lisa zu Ende gesprochen hatte.

Dr. Mainetti atmete tief auf.»Bist ein tapferer Junge«, sagte sie und klopfte Bloch auf die Wange.»Ich hätte diese Kraft nicht.«

Sie wandte sich ab und wusch sich die Hände und Arme. In wenigen Minuten würden neue Verwundete von der Front kommen. Ein Lazarettzug war wieder eingetroffen, die Sankas von Bernegg waren unterwegs.

Für Block B zwölf Neuzugänge, hatte die Verwaltung gemeldet. Zwölf zerstörte Gesichter. Zwölf zerstörte Schicksale. Zwölf Fratzen des Krieges. Zwölf junge Menschen, die in der Einsamkeit von Bernegg ein neues Leben beginnen mußten.

Zwölfmal die ungeheuerliche Konsequenz eines politischen Wahnsinns.

Und keiner lernte daraus.

Weihnachten war gekommen.

Ursula Schwabe war aus ihrem Keller umgezogen in den Keller der Horst-Wessel-Straße 4, zu ihrer Schwiegermutter. Eines Tages stand sie mit einem Pappkoffer und ihren Kleidern über dem Arm vor der Tür in dem zerstörten Haus und weinte.

«Ich kann nicht mehr«, sagte sie.»Keine Nacht kann ich mehr schlafen. Immer sehe ich diese Gesichter vor mir, die keine mehr sind. Und Erich sehe ich immer… auch so, ohne alles… nur noch Augen… und diese Augen weinen, weinen. Es ist furchtbar, Mutter. Laß mich bei dir wohnen. ich halte es allein nicht mehr aus!«

Frau Schwabe verstand sie, nahm sie an der Hand und führte sie hinab in den Keller. Im Laufe des Tages, während der kurzen Entwarnungen, rannten sie zu Ursulas Keller und schleppten alles, was sie tragen konnten; zur Horst-Wessel-Straße. Das Luftschutzbett, die Matratzen, die Töpfe, die Decken, die Kissen, zwei Stühle, Geschirr und Gläser in Pappkartons. Und eine Schuhschachtel voll Fotos. Bilder von Erich Schwabe: vom Kind, das im Sandkasten spielte, bis zum Hochzeitsbild, das ihn stolz und selbstbewußt zeigt: Seht, solch eine hübsche Frau habe ich ab heute!

«Fährst du Weihnachten wieder hin?«fragte Ursula.

Sie hatte eine Sonderzuteilung Mehl bekommen. Nun saß sie vor der Tüte und wußte nicht, ob sie ein paar Weihnachtsplätzchen bak-ken sollte oder nicht.

«Ja«, sagte Frau Schwabe.

«Ob er schon Plätzchen essen kann?«

«Ich glaub' es nicht, Uschi.«

Ursula trug die Tüte mit Mehl weg in eine Ecke und verschloß sie im Oberteil eines Küchenschranks, das auf dem Kellerboden stand. Das Unterteil war verbrannt.

«Er hat geschrieben, ich soll mitkommen«, sagte sie, als sie zurückkam. Seit zwei Wochen sagte sie es, immer und immer wieder, und stets hatte Frau Schwabe die gleiche geduldige Antwort für sie.

«Im Februar wird es gehen, sagt die Frau Doktor.«

«Aber ich liebe ihn doch! Ich werde bestimmt nicht entsetzt sein.

Ich. ich.«

«Du mußt Geduld haben, Uschi. Sei tapfer um Erichs willen. Es wird einmal eine Zeit kommen, wo er dich voll und ganz braucht. Dich allein… nicht mehr mich. Und es wird bald sein. Mit jeder Operation kommt er näher zu dir, kommt er zu dir zurück. Du kannst ihm jetzt nur helfen, indem du wartest.«

Einen Tag vor Heiligabend fuhr Frau Schwabe wieder nach Schloß Bernegg. Sie hatte diesmal nichts zu essen bei sich, aber eine große Fotografie Ursulas in einem geschnitzten Holzrahmen. Beides zusammen hatte sie die Rauchermarken von sechs Wochen gekostet. Und Bücher hatte sie gekauft, von einem Mann, der durch den Verkauf seiner geretteten Bibliothek seinen Kochtopf füllte.

So kam sie, schwer bepackt, in Bernegg an.

Sie war nicht die einzige Mutter in dem großen, ausgeräumten Zimmer, in dem sie dann saß und wartete. Viele Frauen waren gekommen; sie saßen ein wenig bedrückt auf den Stühlen und warteten, was geschehen sollte. Es roch nach frischem Tannengrün und Gebäck, nach Äther und angebranntem Gulasch. Ein Soldat mit Rotkreuzbinde stand in der Tür und sah auf seine Armbanduhr.

«Der Chef kommt gleich«, sagte er.»Er hat vorher noch etwas zu sagen.«