Kapitel 5
In ihren Zimmern saßen die Verwundeten und warteten mit der gleichen schmerzhaften Ungeduld wie die Mütter und Frauen im Erdgeschoß des Blocks B. Eine ameisenemsige Tätigkeit war diesen Minuten der stummen Gespanntheit vorausgegangen. Es begann schon am frühen Morgen mit einer Dusche und mit der >Herrichtung< der Gesichter. Es wurde neu verbunden, neue Leukoplaststreifen wur-den über die schlimmsten Narben und Entstellungen geklebt. Einige rasierten sich sogar. Millimeterweise schabten sie die wenigen Barthaare ab, die wieder hervorsprossen oder die auf den übriggebliebenen Hautpartien zwischen den Narben wucherten. Dr. Urbans Spezialität war es, gerade diesen Männern das Leben sauer zu machen, die sich noch rasieren mußten.»Ein bißchen näher ans Messer 'ran!«schrie er, wenn er einen Verwundeten mit einigen übersehenen Stoppeln antraf.»Hat der Kerl das Glück, noch Haut auf dem Gesicht zu haben, und vernachlässigt sie! Kehrt marsch — und nochmals rasiert!«
Die Uniformen wurden geputzt und aufgebügelt. Die Hosen hatten einen scharfen Kniff. In alter Landsermanier waren sie am Abend vorher am Bruch naß gemacht und unter die Matratze gelegt worden. Das gab eine bessere Falte als das schwerste Bügeleisen eines Schneiders.
Auch Wastl Feininger hatte die Nachricht bekommen, daß seine Frau aus Berchtesgaden herüberkäme. Das hatte ihn in Not gebracht.»Dös Luada kimmt!«schimpfte er und hieb mit seinem Schiffchen auf den Tisch.»Jetzt kann i dös Madl drunten abbestell'n! Is dös no a Festtag, wenn mei Alte kimmt?«
Fritz Adam saß nachdenklich und still auf seinem Bett. Auch seine Frau hatte sich angesagt. Zum erstenmal kam sie nach Bernegg. Er hatte ihr geschrieben, daß er eine Verletzung im Gesicht habe und daß er — wenn die Operation gelänge — vielleicht etwas verändert aussehen würde. Irene Adam, das kapriziöse Frauchen, hatte darauf geantwortet:»Es wird sich alles finden. So schlimm wird's nicht sein. «Nun saß Fritz Adam ängstlich und mit wildem Herzklopfen auf seinem Bett. Unten, ein Stockwerk tiefer, wartete Irene. Er wußte es. Schwester Dora Graff hatte allen mitgeteilt, wer gekommen war. Er hatte sich sorgfältig rasiert und gekämmt, und der Sanitätsunteroffizier — ein Famulus, der Dr. Mainetti auf der Station half — hatte neue, breite Leukoplaststreifen über seine verbrannte und zerstörte Gesichtshälfte geklebt. Als er sich später im Spiegel anschaute, war es ein erträglicher Anblick.»Wie nach einer schweren Säbelpartie, Kom-militone!«sagte der Famulus zu dem Medizinstudenten Fritz Adam.»Deine Frau wird sich wundern, warum du überhaupt hier im Lazarett bist.«
In einer Ecke des Zimmers standen die Weihnachtsgeschenke, die die Verwundeten in den langen Wochen zuvor gebastelt hatten. Am Nachmittag sollte die Bescherung von Waisenkindern stattfinden. Die Parteileitung hatte es sich als einen großen Propagandaeffekt ausgedacht: Die vom Krieg Gezeichneten beschenken die durch den Krieg Verwaisten — eine Front der Herzen, die unbesiegbar war!
Die Verwundeten wußten es nicht. Sie hatten die Spielsachen in echter Freude gebaut, sie hatten gesägt und geklebt, gehämmert und gebohrt, weil es ihnen Spaß machte. Kleine Kunstwerke waren dabei entstanden, automatische Mühlen, Drehkräne und Feuerwehren. Schiffe, die qualmten, und Autos, deren Motor richtig brummte. Nur militärisches Spielzeug war nicht darunter. Kein Säbel und kein Panzer, keine Kanone und kein Schützengraben. Und kein Flugzeug. Es war, als würden die gestaltenden Finger steif, wenn man nur an die Möglichkeit eines solchen Spielzeugs dachte. Eine Planzeichnung zum Modellbau eines Bunkers mit Kanonen und Flaktürmen, die die Parteileitung vor einigen Wochen ins Lazarett gebracht hatte, fand sich zerrissen auf dem Lokus wieder. Dr. Urban stellte zwar strenge Untersuchungen an, aber sie liefen sich tot. Es gab 200 Verwundete im Block B, jeder konnte es gewesen sein. Daß es der Chefarzt, Professor Dr. Rusch, selbst getan hatte, daran dachte niemand.
Auch Erich Schwabe hatte etwas gebastelt. Er war gelernter Glaser; er hatte sich Glasscherben geben lassen und sie mit Ölfarbe in vielen Farben angestrichen. Aus diesen bunten Scherben hatte er ein Mosaik gefertigt: die Silhouetten zweier Menschen, die Hand in Hand der Sonne entgegengingen. Darunter hatte er geschrieben: Nur mit dir gibt es ein Morgen. Es war Erichs Geschenk für Ursula, Frau Schwabe sollte es mitnehmen nach Köln. Ursula selbst konnte — wie die Mutter geschrieben hatte — nicht mit nach Bernegg kommen, weil sie sehr erkältet sei und über 40 Grad Fieber habe.»Aber Ostern wird sie bestimmt mitkommen«, hatte Frau Schwabe noch geschrieben.
«Täglich sind jetzt Luftangriffe, und es wird so viel geplündert, trotz der Todesstrafe. Da können wir den Keller nicht allein lassen. Nur einer von uns kann zu Dir kommen, mein Junge. Und Ostern wird es Uschi sein — «
Erich Schwabe sah es ein. Ostern werde ich wieder besser aussehen, dachte er. Mit jeder Woche geht es bergauf. Vielleicht ist es gut, daß Uschi mich jetzt nicht sieht, sondern erst zu Ostern, wenn ich wieder halbwegs hergestellt bin.
So hatte er sein Mosaik für seine Frau angefertigt, diesen rührenden Schrei nach Liebe. In Packpapier verpackt, lag es auf seinen Knien. Auch er wartete, bis er aufgerufen wurde. Obwohl er wußte, daß seine Mutter kam und sie ihn schon gesehen hatte, füllte ihn die Erregung bis obenhin aus. Sein Atem ging pfeifend durch die Mundhöhle.
Die Tür öffnete sich. Ein Sanitäter sah kurz herein und winkte den Aufspringenden zu.
«In zehn Minuten ist's soweit, Kameraden. Der Chef spricht noch. Zeit genug, nochmal pinkeln zu gehen.«
«Erzviech, saudummes!«schrie Wastl Feininger.
Fritz Adam legte sich zurück aufs Bett. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloß die Augen.
«Dieses Warten«, sagte er leise.»Dieses verdammte Warten. Ich wollte, es wäre schon Abend.«
Keiner antwortete ihm. Sie saßen auf den Betträndern und starrten vor sich auf den Boden.
Was wird sie sagen, dachte jeder, wird alles gut gehen? Oder wird sie mir nur ein Theater vorspielen und sich im Inneren ekeln? Vielleicht hat sie schon einen anderen Mann, einen schönen, gesunden Mann mit einem glatten, ebenmäßigen Gesicht? War es ihr zuzumuten, mit einer solchen Fratze zusammenzuleben? War es nicht besser, Schluß zu machen — jetzt, jetzt gleich?
Weihnachten — das Fest der Liebe.
«Auf mir wartet keener!«sagte der Berliner in die Stille des Zimmers hinein,»Kinder, wie ick mir darauf freue, alleene zu sein.«
Und alle um ihn herum beneideten ihn in diesem Augenblick.
Die Frauen und Mütter sahen auf, als sich die Tür des Saals öffnete und Professor Dr. Rusch in Begleitung von Dr. Lisa Mainetti und Dr. Urban hereinkam. Sie hatten ihre weißen Kittel an. Dr. Urban allein trug unter dem Arztmantel seine Offiziersuniform und hohe, blankgeputzte Stiefel. Mit hocherhobenem, germanisch-schmalem Kopf überschaute er die Schar der Besucherinnen, und sein Blick blieb an einer jungen Frau haften, die in einem Pelzmantel nahe der Tür saß. Sie hatte zierliche, hochhackige Schuhe an, Seidenstrümpfe, und unter dem offenen Pelz ein Kostüm, dessen enger Rock jetzt hochgerutscht war und die schlanken, langen Beine freigab. Ihr weiß-blondes Haar war aufgesteckt, das Gesichtchen war geschminkt, die vollen Lippen glänzten unter der Zyklamenfarbe eines französischen Lippenstifts. Die dunklen, flinken Augen erfaßten alles, was um sie herum vorging, und erwiderten teils erstaunt, teils herausfordernd den Blick Dr. Urbans.
>Sieh an, welch kleines Aas<, dachte er, und im gleichen Augenblick bemerkte er den Trauring an ihrer Hand. >Also die Frau eines unserer Gesichtskrüppel<, dachte er brutal weiter. Undenkbar, daß dieses Weibchen mit einem Menschen ohne Gesicht leben kann. Man möchte fast sagen: Sie ist zu schade dazu.
Dr. Urban rückte seinen weißen Arztkittel gerade und knöpfte den obersten Knopf auf, damit man die silbernen Offiziersspiegel seiner Uniform sehen konnte. Dann sah er die kleine, kapriziöse Frau wieder an. Sie wich seinem Blick aus, aber es entging ihm nicht, wie sie ihn aus den Augenwinkeln musterte und taxierte.