Chefarzt Professor Dr. Rusch ging zu einem Stuhl, der vor einem großen, geschmückten Tannenbaum stand. Zwei Schwestern waren noch dabei, mit auf Stöcken gesteckten Kerzen die Lichter anzuzünden. Der Duft angesengten Tannengrüns durchzog den Raum. Weihnachtliche Andacht senkte sich über die dicht gedrängt sitzenden Frauen und die wenigen Männer, die dazwischen saßen. Weißhaarige Väter, die auf ihren verstümmelten Sohn warteten.
Professor Dr. Rusch umfaßte die Lehne des leeren Stuhles und sah über die ihm zugewandten Gesichter hinweg. Jetzt muß ich etwas sagen, dachte er. Und ich möchte ihnen allen zurufen: Kommt, ihr Mütter und Väter. Nehmt euer Kind mit, stellt es auf die Straße, zeigt es jedem, fahrt mit ihm von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus und schreit: Seht — das ist der Krieg! Das ist seine unauslöschbare Fratze! Das ist von einem jungen, gesunden, schönen Menschen übriggeblieben, einem Menschen, der einmal an Glück und Liebe glaubte und den ich in die Welt gesetzt habe, damit er sich am Leben freuen kann! Und das hier ist aus ihm geworden! Wofür, so frage ich euch alle? Könnt ihr mir sagen, wie es möglich ist, daß eine Handvoll Menschen einen Krieg entfesselt, wo doch Millionen Menschen in Frieden leben möchten? Wo steckt die Wurzel dieses Wahnsinns? Seht euch mein Kind an — das ist der Krieg! Soll euer Kind morgen oder übermorgen genauso aussehen?
Dr. Lisa Mainetti trat hinter Professor Rusch und beugte sich leicht vor.»Soll ich reden?«fragte sie leise.»Wenn du jetzt sagst, was du denkst, redest du dich um Kopf und Kragen.«
Professor Rusch sah kurz zu seinem Oberarzt hinüber. Dr. Urban stand neben der kapriziösen jungen Frau und scharrte wie ein verliebter Hund mit den Füßen.
«Liebe Mütter und Frauen«, sagte Professor Rusch. Seine Stimme war klar, sie weckte Vertrauen durch ihre menschliche Wärme.»Wenn gleich alle Lichter an dem großen Weihnachtsbaum brennen und sich die Türen des Lazaretts öffnen, dann ist das etwas anderes als das Sichöffnen irgendeines Weihnachtszimmers, hinter dessen Tür ein Baum brennt und gutgemeinte Geschenke warten. Auf Sie wartet wirklich ein Geschenk, ein wiedererstandener Mensch, der vielleicht anders aussehen mag als der Mensch, den Sie in Erinnerung haben — aber er ist da, und er ist es wirklich! Mit allen Fasern seines Herzens glaubt er wieder an die Zukunft! Er hat sich zu einem neuen Leben durchgerungen, von dem er lange dachte, daß es das für ihn nicht mehr geben würde. Nun ist er Ihnen zurückgegeben, und das einzige, was dieser Mensch von Ihnen erbittet, nein, ich möchte sagen, was er verlangt, was er fordern kann, ist nichts weiter als Liebe. Nur Liebe! Das ist das größte und das einzige Geschenk, das Sie ihm bringen können. Alles, was Sie sonst in Ihren Taschen mitgebracht haben, können Sie wegwerfen. Es ist nicht wichtig — aber Ihre Liebe ist für ihn das neue Leben, ist seine Stärke, seine Zukunft, sie ist einfach alles für ihn. Ein großer Teil von Ihnen sieht den Sohn oder den Ehemann zum erstenmal seit seiner Verwundung. Frau Dr. Mainetti hat mit jedem einzelnen von Ihnen gesprochen. Ich möchte Sie bitten, keinen Augenblick zu vergessen, was sie Ihnen gesagt hat: Seien Sie stark! Geben Sie alle Liebe her, auch wenn es Sie all Ihre Kraft kostet. Es ist Ihr Sohn, es ist Ihr Mann, der Ihnen gleich gegenüberstehen wird — und er ist hilfsbedürftiger als jedes Kind. «Professor Dr. Rusch senkte den Kopf. Seine Stimme wurde leise, aber bis in die letzten Reihen verstand man ihn.»Ich lege das Schicksal meiner Kameraden in Ihre mütterlichen Hände. Ich weiß, sie heilen mehr als mein chirurgisches Messer.«
Fast brüsk wandte er sich ab und verließ mit gesenktem Kopf das Zimmer.
Ein Sanitätsfeldwebel erschien in der Tür. Er hielt eine lange Liste in der Hand und baute sich im Zimmer auf. Dr. Urban sah auf die kleine Frau neben sich. Die Ansprache des Chefarztes hatte sie nicht sonderlich ergriffen. Sie weinte nicht, wie viele Frauen und Mütter um sie herum es taten. Mit schneller Zunge leckte sie nur ein paarmal über die geschminkten Lippen. Eine süße Schlange, dachte Dr. Urban. Zu wem mag diese Puppe wohl gehören?
Die Stimme des Feldwebels riß ihn aus seiner Betrachtung. Sie rief die Namen auf, und nacheinander entfernten sich die aufgerufenen Frauen.
«Berger — Zimmer 10 Wüllner — Zimmer 15 Eisenbarth — Zimmer 4 Gerhardt — Zimmer 20 Pollisch — Zimmer 1
Feininger — Zimmer 14
Schwabe — Zimmer 14
Adam — Zimmer 14.«
Die kleine, kapriziöse, weißblonde Frau zupfte den Rock über ihre Knie und erhob sich. Sie raffte den Pelzmantel zusammen und sah Dr. Urban mit großen Kinderaugen an.
«Adam — das bin ich!«sagte sie mit heller Stimme.
Das ist eine Beleidigung der Natur! Dr. Urban verbeugte sich galant.»Sie sind Eva, gnädige Frau. Darf ich Sie zu Zimmer 14 bringen?«
«Gern, Herr Stabsarzt.«
Sie trippelte vor ihm her über den Flur bis zur Treppe. Adam, dachte Dr. Urban und musterte die schlanken Beine der Frau. Fritz Adam. Der Mann mit der zerstörten rechten Gesichtshälfte. Medizinstudent im 4. vorklinischen Semester. Ein netter Bursche an sich — aber was will eine so entzückende Frau mit einem Mann, der nur ein halbes Gesicht hat?
«Die Treppe hinauf!«sagte Dr. Urban und schaute den Beinen zu, die vor ihm die Stufen hinauftänzelten. Unter seiner Schädeldecke wurde ihm heiß, und er mußte schlucken, weil sich eine fatale Trok-kenheit in seinem Mund ausbreitete.
«Sie haben Ihren Mann schon gesehen?«fragte er und schob sich mit einem langen Schritt an ihre Seite.
«Nein. Es ist das erstemal. «Irene Adam blieb stehen. Ihre Kinderaugen waren kullerrund und dunkel vor Angst.»Sieht er. sieht er schlimm aus?«
«Wie man's nimmt. «Dr. Urban steckte die Hände in die Taschen seines weißen Arztmantels.
«Ich tue alles, was in meiner Kraft steht, um Ihren Mann wiederherzustellen. Vor allem jetzt, wo ich Sie kenne.«
«Sie operieren ihn?«Irene Adam sah bewundernd zu Dr. Urban auf. In ihren Augen flimmerte es.»Sie haben einen wunderbaren Beruf, Herr Stabsarzt.«
Dr. Urban schwieg. Er schluckte das Lob der kleinen Frau wie sonst sein Pervitin. Daß er nicht eine einzige Naht am Gesicht Fritz Adams gelegt hatte, spielte keine Rolle. Man sollte ihr sagen, daß ihr Mann nie wieder wie früher aussehen wird, dachte er einen Augenblick. Aber dann erschrak er vor seinen eigenen Gedanken und ging Frau Adam voraus zum Zimmer 14. Er öffnete die Tür und ließ sie allein eintreten. Er sah noch, wie Fritz Adam aufsprang und die kleine Frau wie erstarrt stehenblieb. Da schloß er schnell die Tür, trat an das Flurfenster und blickte hinaus auf den verschneiten Schloßpark.
Er fühlte in sich den unheimlichen Wunsch, daß Irene Adam sich nicht an die Verstümmelung ihres Mannes gewöhnen möge.
Er schämte sich nicht einmal, das zu denken.
Ich bin groß, gesund und stark, dachte er. So etwas braucht sie. Und er spürte, wie die Leidenschaft in ihm aufglühte und wie er sich ärgerte, daß die Tür des Zimmers 14 nicht aufsprang und Irene Adam nicht herausgerannt kam und rief: Ich kann ihn nicht sehen… ich kann nicht.!
Mit nervösen Fingern zündete sich Dr. Urban eine Zigarette an und wartete im Flur. Über eine Stunde lang ging er hin und her, bis ein Zittern durch seinen Körper flog. Da rannte er hinunter in sein Zimmer, riß aus dem Nachtschränkchen einen kleinen Kasten mit einer in Mull liegenden Spritze, zog aus einer Ampulle eine glasklare Flüssigkeit auf und stach die Nadel tief in den linken Unterarm. Schwer atmend lehnte er sich dann zurück und wartete, bis das Morphium wirkte.
Er wurde ruhiger, sein Atem ging normal, und nur an den glänzenden Augen sah der Wissende, woher Dr. Urban seine Kraft genommen hatte.
Mit schnellen Schritten lief er zurück zum ersten Stockwerk und bezog wieder Posten vor Zimmer 14.