Kurz vor dem Mittagessen klopfte es an die Tür Dr. Lisa Mainettis.
Lisa hatte es sich bequem gemacht, nachdem sie von den einzelnen Stationsschwestern erfahren hatte, daß es in den Zimmern zu keinerlei Komplikationen gekommen war. Zwar hatte es Tränen gegeben, und die mühsame Überwindung des Entsetzens war oft deutlich spürbar gewesen, aber dann hatte die Liebe der Frauen und Mütter gesiegt, und das zerstörte Gesicht war in ihren Augen glatt und heil geworden. Dr. Rusch war nach Bernegg gefahren. Er mußte den Kreisleiter abholen, der am Nachmittag die Bescherung der Kriegswaisen vornehmen wollte. Der Gemeinschaftssaal wurde zu diesem Zweck umdekoriert. Vor dem Weihnachtsbaum wurde ein Podium aufgebaut, umhüllt mit der Hakenkreuzfahne. Zwischen Podium und Weihnachtsbaum stand auf einem hohen Sockel eine Büste Adolf Hitlers. Professor Rusch konnte sich gegen diese Ausgestaltung seines Freizeitraums nicht wehren. Er nahm sie hin mit dem gleichen passiven Widerstand, den er auch in seinem Lazarett zeigte und dessen unüberhörbarer Ausdruck die Begrüßung seiner Soldaten bei der Visite mit >Guten Morgen< oder >Guten Tag< war, während Dr. Urban jedesmal mit lauter Stimme >Heil Hitler< rief.
Dr. Lisa Mainetti setzte sich, als sie das Klopfen an ihrer Tür hörte, strich sich die Haare glatt und sagte» Herein!«Verwundert betrachtete sie die weißblonde, puppenhafte Frau, die in das Zimmer tänzelte. Auf dem Flur bemerkte sie, während die Tür zuklappte, noch das schnelle Vorbeiwehen eines weißen Kittels und darunter zwei schwarzglänzende, wegeilende hohe Offiziersstiefel.
«Mainetti!«stellte sich Lisa vor.»Sie möchten mich sprechen?«
«Ich bin Frau Adam. «Irene Adam sah die Ärztin mit großen, unschuldigen Augen an. Wenn man sie auf den Rücken legt, müßten die Augendeckel zuklappen, wie bei einer Schlafpuppe, dachte Lisa.»Herr Stabsarzt Dr. Urban verwies mich an Sie als die Stationsärztin meines Mannes.«
Also war es doch Urban, der eben vorbeigehuscht war, dachte Lisa Mainetti. Warum schickt er diese Frau ohne Anmeldung zu mir?
«Es stimmt, ich bin die Stationsärztin Ihres Mannes. Fritz Adam, nicht wahr?«Dr. Mainetti sprach langsam und vorsichtig. Ein merkwürdiges Gefühl hatte sie vom ersten Augenblick an ergriffen, als Irene Adam ins Zimmer trat. Verstärkt wurde es durch den weghuschenden, weißen Mantel auf dem Flur.»Wie finden Sie Ihren Mann? Sieht er nicht wieder prächtig aus? Und er hat einen so starken Willen, daß er auf andere Kameraden tröstend wirkt.«
Irene Adam wölbte die Unterlippe vor. Sie setzte sich und stellte ihre große Lacktasche neben sich auf den Boden.
«Wir sind verheiratet«, sagte sie wie ein schmollendes Kind.»Gewiß. Aber wir kannten uns nur ein paar Wochen, und gleich nach der Hochzeit mußte Fritz wieder an die Front. Eigentlich bin ich gar nicht verheiratet, nicht wahr? Oder kann man ein paar Tage Zusammenleben als Ehe bezeichnen? Wenn man es genau betrachtet.«
«Was wollen Sie von mir«, unterbrach sie Lisa Mainetti grob. Ein Widerwille, klebrig wie Ekel, stieg in ihr auf.
Irene Adam sah sie erschrocken an.»Ich wollte mich mit Ihnen über Fritz unterhalten.«
«Das tun Sie ja bereits in einer reichlich merkwürdigen Weise.«
«Ich bin gekommen, um Sie um etwas zu bitten, Frau Doktor. «Irene Adam holte aus der großen Lacktasche ein mit Spitzen umsäumtes Taschentuch und betupfte sich damit theatralisch die Augen.»Ich habe Fritz gesehen. Ich wußte, daß er im Gesicht verletzt war. Aber so… die ganze Seite… einfach alles weg… so habe ich mir das nicht gedacht.«
«Auch Ihr Mann hat sich sein weiteres Leben anders gedacht. Aber es gibt schlimmere Verletzungen als seine. In zwei Jahren wird er wieder menschlich aussehen.«
«In zwei Jahren!«Irene Adam bekam große, fast unbewegliche Augen wie ein Stofftier.»Aber er wird nie wieder so aussehen wie vorher?«
«Nein.«
«Er wird nie mehr schön sein?«
«Nein.«
«Aber ich habe damals einen schönen Mann geheiratet. Nur darum habe ich ihn vor all den anderen genommen, weil er ein so schönes Gesicht hatte. Alle anderen Frauen sahen ihm nach, und ich — ich habe ihn heiraten können! Und nun ist alles das weg — und ich bin doch noch jung, Frau Doktor, ich bin erst 23 Jahre alt. Soll ich mein ganzes Leben neben einem solchen Gesicht leben? Neben einem Mann, von dem alle wegsehen? Das kann doch niemand von mir verlangen, nicht wahr?«
«Man sollte Ihnen jetzt eine kräftige Ohrfeige geben«, sagte Lisa Mainetti mit unheimlicher Ruhe. Irene Adam zuckte zusammen, als sei sie wirklich geschlagen worden, und sprang auf.
«Sie sind doch eine Frau wie ich!«sagte sie weinerlich.»Sie waren doch auch einmal jung. Und eigentlich bin ich doch gar nicht verheiratet… nur ein paar Tage waren wir zusammen. Man kann mich doch jetzt für diese paar Tage nicht ein ganzes Leben lang bestrafen!«
Lisa Mainetti unterdrückte die Regung, wirklich aufzuspringen und in dieses geschminkte Puppengesicht hineinzuschlagen. Ein bitterer Geschmack lag in ihrem Mund, und ihr Gesicht spiegelte die Verachtung wider, die sie empfand.
«Haben Sie das alles Ihrem Mann gesagt?«fragte sie mit mühsamer Beherrschung.
Irene Adam schüttelte den weißblonden Kopf.»Natürlich nicht. Er hat sich so gefreut, daß ich gekommen bin. Darum bin ich auch zu Ihnen geschickt worden, Frau Doktor. Bitte, sprechen Sie mit Fritz darüber. Er muß mich verstehen. Bringen Sie ihm das alles bei. Er kann nicht wollen, daß ich mein ganzes Leben lang. Ich will nach der Mittagspause auch nicht wiederkommen. Ich fahre gleich wieder zurück zu meinen Eltern. Sie müssen mit ihm sprechen, Frau Doktor!«
«Müssen?«Dr. Mainetti senkte den Kopf. Warum ist man so gut erzogen, dachte sie bitter. Warum kann man nicht aufspringen und dieses Miststück von einem Weib durch das Zimmer prügeln, durch den Flur hinaus aus dem Lazarett, über die Straße, damit es alle sehen? Warum muß man jetzt noch höflich sein?
«Haben Sie nie daran gedacht, was Sie bei der Trauung versprochen haben?«sagte sie mit vor Erregung heiserer Stimme.»Bis daß der
Tod euch scheidet, hieß es. Und eine Ehe ist nicht nur in guten Tagen gültig, sondern auch in bösen. Erst da zeigt es sich, wie groß eine Liebe ist. Die Ehe ist eine Verbindung auf Gedeih und Verderb und kein gemeinsamer Ausflug in angenehme Zerstreuungen. Jetzt, in diesem Augenblick, können Sie beweisen, daß es Ihnen ernst war mit dem Schwur, ein ganzes Leben gemeinsam zu gehen.«
Irene Adam saß vor Lisa Mainetti, mit schief geneigtem Köpfchen und einem Schmollmund, mit ratlosen Kinderaugen und einer unwillig zusammengezogenen Stirn.
«Das ist ja alles ganz gut und schön«, sagte sie, als Lisa schwieg.»Damals war es auch anders. Damals hatte ich wirklich den Willen, immer mit Fritz. «Sie schluckte und nestelte an ihrem Spitzentaschentuch herum.»Aber jetzt ist doch alles anders, Frau Doktor. Fritz ist ein anderer Mensch geworden. Nicht nur äußerlich. Er ist auch anders zu mir… wie soll ich sagen… er ist eben völlig umgedreht. Er ist nicht mehr der Fritz, den ich damals heiratete. Er ist mir völlig fremd. «Sie putzte sich das Näschen und tupfte wieder über die bemalten Augen.»Und im übrigen«, sagte sie plötzlich wie ein trotziges Kind,»will ich nicht mehr! Ich bin jung und hübsch und ich habe Aussichten, noch einen Mann zu bekommen, der mein Typ ist.«
«Monatelang hat sich Ihr Mann auf diese Stunde des Wiedersehens gefreut!«rief Dr. Mainetti. Ihr Gesicht wurde rot und hart.»Geduldig hat er sich den Operationen unterzogen, in der letzten Zeit nur mit örtlicher Betäubung, weil die vielen Vollnarkosen bei ihm Kreislaufstörungen verursachten. Immer hat er von seiner Irene gesprochen und war glücklich, wenn wieder ein Hautstückchen angewachsen und ein weiterer Schritt zu einem neuen Gesicht getan war. Und nun kommen Sie her und verlangen.«
Irene Adam erhob sich brüsk, sie riß ihre Tasche an sich und sah auf Lisa mit einer unheimlichen Kaltschnäuzigkeit herab.