«Das ist Schicksal!«sagte sie hochnäsig.»Da kann ich auch nichts dagegen machen.«
In Lisa Mainetti brach die letzte Hemmung. Sie sprang auf, riß die
Tür ihres Zimmers auf und faßte den Arm der weißblonden Puppe. Mit einem heftigen Ruck stieß sie die Gestalt zur Tür hinaus auf den Flur.
«'raus!«schrie Dr. Mainetti.»Sofort 'raus! Ihr Mann kann Gott danken, wenn er von Ihnen befreit ist!«
Sie warf die Tür wieder hinter sich zu und preßte beide Hände gegen das wild hämmernde Herz. Was habe ich getan, dachte sie. Ich habe die Gewalt über mich verloren. Ich habe mich als Ärztin unmöglich benommen. Aber ich konnte nicht anders. Bei Gott — ich wäre zerplatzt, wenn ich sie nicht hinausgeworfen hätte.
Am Ende des Flurs wartete Dr. Urban. Als er Irene Adam mit gesenktem Kopf herankommen sah, eilte er ihr entgegen. An ihrem Gesicht sah er, was geschehen war. Er hatte es nicht anders erwartet, ja, er hatte es sich sogar so gewünscht, als er Irene Adam zu Lisa Mainetti schickte.
«Kann ich etwas für Sie tun?«fragte er mit galant flötender Stimme.»Sie wohnen in Bernegg?«
«Nein. In Oberhalden. In Bernegg war alles schon besetzt. Oberhalden, Hotel >Goldener Engel<. «Sie sah Dr. Urban hilfeflehend aus ihren unschuldigen Kinderaugen an.»Sie hat mich hinausgeworfen.«
«Ich weiß. Sie ist eine böse Frau. «Dr. Urban zog seinen Arztkittel aus und warf ihn auf einen Stuhl, der an der Wand des Flurs stand. Die Offiziersuniform kleidete ihn vorzüglich. Irene Adam stellte es sachkundig fest.»Wäre es Ihnen unangenehm, wenn ich Sie mit dem Wagen nach Oberhalden bringe, gnädige Frau?«
«Unangenehm? Wie können Sie so etwas fragen? Gerade jetzt brauche ich männlichen Schutz. Ich bin doch so allein.«
«Na, dann wollen wir!«Dr. Urban ging ihr voraus und öffnete vor ihr die Tür des Seitenausgangs, der zu einem der Parkwege führte und von dort zur Hauptwache.»Wann fahren Sie zurück nach Hause, gnädige Frau?«
«Vielleicht in zwei Tagen«, sagte Irene Adam und ordnete ihre weißblonden Locken.»Vielleicht — es vermißt mich ja niemand.«
Während sie hinunter zur Hauptwache gingen, stieß Dr. Mainetti die Fenster ihres Zimmers auf. Es war ihr unmöglich, den Geruch,von Irene Adams Parfüm länger zu ertragen.
Nach dem Mittagessen wurde die Post verteilt. Sie war heute etwas später gekommen; zudem hatte die Verwaltung, die die Briefe auf die einzelnen Blocks verteilte, an diesem Weihnachtstag ein ruhigeres Tempo als sonst vorgelegt, was sich bei dem großen Weihnachtsposteingang in beträchtlichem Zeitverlust auswirkte.
Dr. Urban hatte es übernommen, die Post noch einmal durchzusehen, bevor sie an die Stationen weitergegeben wurde. Zwei Männer halfen ihm dabei — ein Sanitätsgefreiter aus Urbans Station und der taube Kaspar Bloch.
«Sieh an«, sagte Dr. Urban plötzlich und drehte einen Brief in seinen Fingern. Kaspar Bloch schielte hinüber — er sah nur ein amtliches Kuvert mit einem großen Dienststempel.»Ein Brief für unseren tauben Kaspar Bloch. «Dr. Urban steckte den kleinen Finger in den Schlitz der Briefklappe und riß das Kuvert auf. Gemeiner Hund, dachte Bloch. Aber da er nicht hören durfte, was Urban sagte, zeigte er nach außen hin keinerlei Bewegung und sortierte ruhig die anderen Briefe nach den Zimmernummern weiter.
Dr. Urban beobachtete Kaspar Bloch. Langsam faltete er den Briefbogen auseinander und las aufmerksam. Dann winkte er dem Sanitätsgefreiten und nickte zu Kaspar Bloch hinüber.
«Eine Sauerei ist das«, sagte Dr. Urban laut.»Gerade zu Weihnachten muß das kommen. Wie bringt man das dem armen Bloch bloß bei? Es wird am besten sein, wenn wir ihm dieses Schreiben erst nach den Feiertagen aushändigen.«
«Jawoll, Herr Oberarzt. «Der Gefreite sah verblüfft zu Dr. Urban hinauf.»Um was handelt es sich denn?«
«Ein Brief der Kreisleitung. Beim letzten Luftangriff ist Blochs Mutter ums Leben gekommen.«
Kaspar Bloch durchfuhr es wie ein feuriger Strahl, der sein Inneres im Bruchteil einer Sekunde verbrannte. Er schloß die Augen und riß den Mund auf. Aber im gleichen Augenblick hämmerte es durch sein Gehirn: Er sieht dich an. Er beobachtet dich jetzt. Du hast nichts gehört. du hast nichts gehört. du bist ja taub. taub. taub. Mutter ist tot, dachte er. Das ist keine Falle mehr. Er hat das Schreiben ja in der Hand, ich habe das amtliche Kuvert gesehen, den Dienststempel, er hat es vor meinen Augen aufgerissen. Mutter ist tot. Mutter.
Dr. Urban faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in die Uniformtasche. Er tat so, als sei es eine unwichtige Sache. Nachdenklich und fragend sah er auf den Rücken Kaspar Blochs, der scheinbar ruhig wie immer die Post sortierte. Kleine Häufchen, nach Zimmern geordnet.
Entweder ist er wirklich taub, dachte Urban unsicher, oder der Kerl hat eine Beherrschung, die einmalig ist. Das >Experiment<, wie er seine unüberbietbare Gemeinheit nannte, war mißlungen. Mit schnellen Schritten verließ er das Zimmer. Auf dem Gang nahm er den Brief aus der Tasche, zerriß ihn in ganz kleine Fetzen und warf sie in einen Papierkorb. Es war wirklich ein unwichtiges Schreiben: ein alter Brief der Kreisleitung mit einer Einladung zur Feier des 9. November.
Kaspar Bloch wartete, bis einige Minuten verstrichen waren. Sein verzerrtes Gesicht war gelblichblaß und eingefallen. Mit zitternden Händen sortierte er die Briefe, aber er achtete gar nicht mehr darauf, wohin er die einzelnen Kuverts legte. Er starrte hinaus in den verschneiten Park und kämpfte mit dem Stöhnen, das ihm in der Kehle saß und nach außen drängte, wie eine Faust, die von innen gegen seinen Mund stieß.
Dann ging es einfach nicht mehr. Er ließ den Stapel Post, den er gerade genommen hatte, zurück auf den Tisch fallen und rannte aus dem Zimmer. Der Sanitätsgefreite beachtete ihn nicht. Er verschnürte gerade wieder ein beschädigt angekommenes Paket, aus dem selbstgebackene Plätzchen und ein Pullover hervorquollen. Kaspar Bloch blieb im großen Treppenhaus stehen und lehnte sich mit der Stirn an eine der kalten Säulen. Wohin, dachte er. Mein Gott, wohin soll ich gehen? Wem kann ich sagen, daß ich hören kann? Wen kann ich fragen, ob es wirklich wahr ist, daß Mutter.
Es blieb ihm keine andere Wahl, als sich zu verraten. Mit großen Sprüngen raste er die Treppe hinunter zum Zimmer Lisa Mainet-tis und riß die Tür auf, ohne anzuklopfen.
Dr. Mainetti las einen langen Brief, der mit der Weihnachtspost gekommen war. Erschrocken sah sie hoch, als Kaspar Bloch in das Zimmer stürzte und die Tür hinter sich zuschlug.
«Frau Doktor.«, stammelte er.»Bitte, bitte, Frau Doktor, verraten Sie mich nicht.«
Dr. Lisa Mainetti legte den Brief zur Seite und zeigte auf einen Stuhl. Sie war weder erstaunt noch verärgert.
«Setzen Sie sich, Bloch«, sagte sie ruhig.»Ich wußte, daß Sie hören können. An Ihren Augen habe ich es gesehen.«
Bloch nickte. Er sank auf den Stuhl und schlug beide Hände vor die Augen. Auf einmal weinte er, leise, wimmernd wie ein gefallenes Kind. Dr. Mainetti ging zur Tür und schloß sie ab.
«So. Jetzt sind wir ungestört. Und nun packen Sie aus. Sie haben geahnt, daß ich Ihr Geheimnis kenne?«
Kaspar Bloch nickte.»Ich kann nicht mehr«, stammelte er.»Es ist zuviel. Ich halte es nicht mehr durch. Bitte, helfen Sie mir, Frau Doktor. bitte, bitte.«
Eine Ahnung stieg in Lisa Mainetti auf. Sie schloß auch das Fenster zum Park und lehnte sich gegen die Fensterbank.
«Was hat Dr. Urban Ihnen gesagt, Bloch?«
«Nichts! Gar nichts!«Kaspar Bloch sah mit flackernden, fast irren Augen zu der Ärztin hinüber.»Er hat einen Brief bekommen. Von der Kreisleitung. Meine Mutter. beim letzten Angriff.. Er will ihn mir erst nach den Feiertagen geben. Bitte, bitte, Frau Doktor. «Sein Kopf sank auf den Tisch, und er weinte haltlos.
In Lisa Mainetti breitete sich wieder die explosive Hitze aus, die sie beim Anblick Irene Adams gespürt hatte. Es kann möglich sein, dachte sie schnell. Jeden Tag werden jetzt die deutschen Städte vom Bombenflugzeug zerfetzt, täglich sterben Hunderte unter brennenden und berstenden Trümmern. Aber es kann auch eine Falle sein, eine der gemeinsten Fallen, die ein Mensch sich ausdenken kann.