Aber er sagte nichts. Er sah nur die starren Augen der alten Frau und wußte, daß es hier keine Entschuldigungen gab.
«Mögen Sie beide den Krieg überleben«, sagte er.
Er drehte sich um und ging langsam die Kellertreppe hinauf. Frau Schwabe blickte ihm nach, die Erstarrung löste sich, als sie seinen Rücken sah.
«Ihre Kartoffeln!«schrie sie, mit sich fast überschlagender Stimme.»Wir brauchen Ihre Kartoffeln nicht!«
Karlheinz Petsch drehte sich noch einmal um.»Was soll ich mit denen im Flugzeug? Eßt sie. sie reichen bis zum Frieden.«
Dann verlor sich sein Schritt oben auf der Treppe und in den Trümmerhalden des zerbombten Hauses.
Frau Schwabe ging mit steifen Beinen zur Tür, schloß sie, schob den Riegel vor, ging zurück zum Bett, nahm das Glasmosaik von Ursulas Rücken und stellte es wieder hinter die blakende Kerze. Dann griff sie nach den Seidenstrümpfen, und fast mechanisch zerriß sie erst den einen Strumpf und dann den anderen, öffnete mit der Schuhspitze die Klappe des runden Eisenofens und warf die zerfetzten Strümpfe ins Feuer. Mit beiden Händen faßte sie die verschnürte Öffnung des Kartoffelsacks, schleppte keuchend die Zentnerlast in die hintere Kellerecke und drückte dann die Kartoffeln etwas höher, damit sie nicht soviel Platz wegnahmen.
Dabei sprach sie kein Wort, und auch als sie sich hinsetzte und verbissen ihre Reisetasche auspackte, war es, als sei sie ganz allein im Raum.
«Mutter.«, sagte Ursula leise. Es war wie der winselnde Laut eines getretenen Hundes.
«Ja.«
«Mutter.«
«Ich werde gleich einkaufen gehen. Was ist auf den Karten aufgerufen?«
Ursula hatte sich aufgerichtet. Sie zog sich an dem Bettpfosten hoch und legte die Hände flach gegen ihre Schläfen.
«Ich packe sofort. Und ich gehe auch gleich. Ich. ich will mich nicht verteidigen. Ich kann es nicht. In zehn Minuten bin ich weg.«
Frau Schwabe hob den Kopf. Sie hielt die Lebensmittelkarten in der Hand und hatte im Mitteilungsblatt nachgesehen, welche Abschnitte aufgerufen waren.
«Auf B 6 gibt es für Neujahr 50 Gramm Butter Sonderzuteilung. Wenn ich deine Raucherkarte dazunehme, kann ich ein ganzes halbes Pfund eintauschen.«
«Ich habe es allein nicht ausgehalten!«schrie Ursula.»Ich habe nichts gesehen als aufgerissene Köpfe. Ich. ich bin doch keine Hure, Mutter!«
Frau Schwabe streckte die Hand aus. Sie ergriff Ursula an der Schürze, ihre Finger krallten sich wie Eisenklammern in den Stoff und zogen die junge Frau zu sich heran. Willenlos folgte Ursula dem harten Zug. Jetzt wird sie mich schlagen, dachte sie. Ins Gesicht schlagen, und anspucken wird sie mich. Sie hat ja recht. Ich habe Erich verraten, ich habe ihn betrogen. Und er schenkt mir ein gläsernes Bild. Nur mit dir gibt es ein Morgen.
«Ich habe nichts gesehen und gehört«, sagte die alte Frau Schwabe streng. Ihre Finger rissen an dem Schürzenstoff.»Ich bin nach Hause gekommen, und du hast gerade das Zimmer geputzt, und die Kartoffeln standen dort in der Ecke, gegen deine goldene Armbanduhr hast du sie eingetauscht, nicht wahr.«
«Mutter.«, stammelte Ursula.
«.und über Erichs Bild hast du dich sehr gefreut. Kaum erwarten konntest du es. Viel zu lange dauerte das Auspacken. Und dann hast du es auf deinen Nachttisch gestellt und gesagt: Ja, Erich, ich werde auf dich warten, ganz gleich, was kommen wird. Ich werde dich lieben wie bisher und dir treu bleiben, und wenn es Jahre dauert. Das wirst du ihm nachher schreiben, nicht wahr?«
In Ursula brach alle Kraft zusammen. Sie fiel auf die Knie und vergrub ihren Kopf in den Schoß der alten Frau.
«Ich habe es nicht gewollt, Mutter«, wimmerte sie. Frau Schwabe nickte mehrmals. In ihren grauen Augen stand jetzt bittere Selbstanklage.
«Ich war zu egoistisch«, sagte sie stockend.»Ja, vielleicht war ich das. Ich hätte dich mitnehmen sollen, trotz allem. «Und plötzlich umfaßte sie Ursulas Körper und drückte ihn fest an sich.»Ich wollte ihn allein haben. Ich wollte zu Weihnachten meinen armen Jungen allein haben. Es war gemein von mir, Uschi, ich weiß es. Ich weiß es. Aber ich bin doch seine Mutter. Wir müssen uns gegenseitig verzeihen, Uschi. Wir haben beide schuld.«
Sie legte ihren Kopf auf die blonden Haare Ursulas, und so hockten sie eine ganze Weile stumm beieinander, sich umklammert haltend und eins geworden in der Erkenntnis, ihr ferneres Schicksal mit einer Lüge begonnen zu haben.
«Aber Erich.«, sagte Ursula und hob den Kopf.
«Er soll es nie erfahren.«
«Und wenn dieser. dieser andere wiederkommt?«
«Er wird nie wiederkommen.«
«Und. und bist du dessen ganz sicher, kannst du es wirklich vergessen, Mutter?«
Frau Schwabe nickte.»Wir müssen uns angewöhnen, uns nicht so wichtig zu nehmen. Was sind wir denn gegen Erich? Er allein hat ein Recht auf uns, für ihn müssen wir leben, an nichts anderes dürfen wir denken. Er ist dein Mann, er ist mein Sohn — alles andere ist unwichtig. Er hat doch nichts mehr auf der Welt als uns.«
Frau Schwabe erhob sich. Sie wischte mit dem Handrücken die Tränen von Ursulas Gesicht und zeigte auf den Sack in der Ecke.
«Schäl einen Topf voll, Uschi. Ich gehe die Butter und das Fleisch holen.«
«Von diesen Kartoffeln?«
«Du hast sie eingetauscht. Nun müssen wir sie essen.«
Drei Tage nach Weihnachten rief Professor Dr. Rusch gegen Mittag Dr. Lisa Mainetti zu sich in das Chefzimmer. Er hielt einen Zettel von seinem Telefonblock mit einer Notiz in der Hand.
«Ein neuer Transport?«fragte sie.
«Generalarzt Professor Dr. Gilgen hat angerufen. Morgen kommt eine Kommission des Generals v. Unruh zu uns. Alle Reserven sollen jetzt mobilisiert werden. Man will alle Lazarette nach kampffähigen Männern durchkämmen unter Anlegung strengster Maßstäbe.«
«Das ist bei uns in Bernegg doch Unsinn!«sagte Lisa und lehnte sich an die Schreibtischplatte.»Was will dieser General v. Unruh bei uns denn herausholen?«
«Alle, die noch schießen können. «Professor Rusch setzte sich und blätterte in einer langen Liste. Name stand hinter Name, versehen mit einem Datum und einigen knappen Bemerkungen.»Der gute Urban hat so etwas schon geahnt, vermutlich ist er gar nicht schuldlos daran. Er hat eine Zusammenstellung unserer Verwundeten nach dem Grad der Verwendungsmöglichkeit angefertigt. Eine regelrechte Fleißarbeit. Nach Urbans Liste sind in unserem Block B allein 67 Mann fähig, wieder an der Front eingesetzt zu werden, als Kraftfahrer, als Nachschub, als Troß. Sie brauchen nicht mal zu schießen, sondern nur kampffähige Männer abzulösen.«
«Um dann zusammengeschossen zu werden!«
«Das wird ihr Schicksal sein«, sagte Rusch leise.
«Genügt es nicht mehr, daß sie keine Gesichter mehr haben? Hätten sie sich lieber die Arme und Beine abschießen lassen sollen?«Lisa Mainetti riß die Liste Urbans aus der Hand des Professors und blätterte sie durch.»So ein Schwein!«sagte sie und spürte die Erregung in sich aufsteigen.»Feininger steht hier, und Fritz Adam und Wal-ter Hertz… und Christian Oster. «Sie warf den Schnellhefter auf den Tisch zurück.»Drei Jahre lang haben wir diesen Oster operiert. Stück für Stück haben wir sein Gesicht neu geformt, allein 34 große Operationen waren nötig, die vielen kleinen Eingriffe zähle ich gar nicht. Haben wir das alles nur getan, damit er sich jetzt fünf Minuten vor zwölf wie ein lahmer Hase abknallen lassen soll?«
Professor Rusch zerriß den Zettel mit der Telefonnotiz. Er tat es so langsam, als schmerze es ihn körperlich, ja, als vernichte er damit alle Vernunft und die Möglichkeit, noch helfen zu können.