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«Wir können einen Teil wieder im Bunker verstecken«, sagte er.

«Das tue ich sowieso«, rief Lisa.

«Und die Liste Urbans darf nicht in die Hände der Kommission kommen. Diese hier wird sie nicht sehen, aber wenn Urban eine Abschrift hat, und das ist anzunehmen.«

«Ich werde mit Urban sprechen, Walter.«

«Aber es ist unmöglich, fast 70 Mann verschwinden zu lassen! Wir haben volle Belegung gemeldet, und plötzlich sind 70 Betten leer!«

«Im Block A liegen sie auf den Fluren herum, weil sie keinen Platz haben.«

«Block A ist die interne Abteilung.«

«Warum kann man Magenkranken nicht den Kopf verbinden? Und wer eine Gallenkolik hat, stöhnt genauso wie einer, dem die Nase fehlt!«

«Unmöglich!«Rusch erhob sich abrupt.»Wenn das bekannt wird, Lisa.«

«Wer soll es verraten?«Lisa Mainetti griff nach dem Telefon.»Sind 70 Menschenleben nicht ein Risiko wert?«Sie wählte einen Hausanschluß und wartete, bis sich eine Stimme meldete. Ohne zu antworten, legte sie schnell wieder auf.»Er ist in seinem Zimmer.«

«Wer?«

«Urban. Ich gehe zu ihm. Wann kommt die Kommission?«

«Morgen gegen 10 Uhr vormittags.«

«Noch knappe 20 Stunden. Es wird genügen.«

«Es kann uns den Kopf kosten!«rief Rusch. Er wußte, daß es sinnlos war, Lisa Mainetti zurückzuhalten. Aber ebenso sinnlos war es, das Opfer des eigenen Lebens auf sich zu nehmen, Lisas Leben wegzuwerfen — jetzt, da sich eine neue Zukunft erkennen ließ, eine Zukunft, die mit jedem Tag näher kam, während die Gegenwart immer morscher wurde.

«Es wird uns wesentlich weniger kosten«, sagte Lisa Mainetti und ging zur Tür.»Gut gerechnet vielleicht nur vierzig Mark! Das sind pro Kopf, den wir retten, nicht einmal sechzig Pfennig. Geht es noch billiger?«

Professor Rusch hielt das Streichholz, mit dem er sich eine Zigarette anstecken wollte, von sich weg. Er merkte kaum, daß er sich die Fingerspitzen verbrannte.

«Was hast du vor, Lisa?«fragte er voll Angst um sie.

«Ich tausche wieder. Weiter nichts! Und ich werde Baumann sagen, daß er die Bunker belegen soll.«

Sie zog die Tür zu, ehe Rusch weitere Fragen stellen konnte, ging schnell über den langen Gang zum OP, machte einen Umweg zur OP-Apotheke und schloß einen weißen Stahlschrank auf. Ihm entnahm sie zwei längliche, verschlossene Pakete, steckte sie in die Taschen ihres Kittels, verschloß den Schrank wieder sorgfältig und ging dann mit weit ausgreifenden Schritten zum Zimmer Dr. Urbans. Nach kurzem, energischem Klopfen trat sie ein, ehe Urban von drinnen eine Antwort geben konnte.

Dr. Urban lag auf seinem Bett und las die neueste Nummer des >Reichs<. Dr. Goebbels hatte einen schönen Silvesterartikel geschrieben.

«Kollega!«sagte Urban verwundert.»Schon wieder bei mir? Sie werden doch nicht meinen nordischen Typ entdeckt haben?«

Lisa Mainetti sah sich im Zimmer um. Es war nüchtern wie alle Arztzimmer in Bernegg. Nur das Führerbild unterschied es von ihrem eigenen Zimmer. Und ein süßlicher Duft war in ihm, ein Geruch von Weiblichkeit, der nicht zu Urban paßte.

«Sie hatten Besuch?«fragte Lisa. Urban erhob sich von seinem Bett. Er sah ein wenig übernächtig und verfallen aus. Seine Haut war grau und faltig.

«Wieso?«fragte er zurück.

«Es riecht nach einer Frau.«

«Immerhin sind Sie im Zimmer, Kollega.«

«Reden Sie keinen Blödsinn! Ich habe dieses Parfüm schon einmal gerochen, und ich habe mich damals schon vor ihm geekelt. Noch mehr vor der Person, die sich damit einhüllte, anscheinend, um ihre dreckige Seele damit zu verdecken. Bei Ihnen riecht es penetrant nach Irene Adam.«

Dr. Urban schob die Unterlippe vor. Er strich sich die Haare glatt und zog den heruntergeschobenen Schlips hoch.

«Sie sind sicherlich nicht gekommen, um Parfümanalysen bei mir vorzunehmen«, sagte er ironisch.»Oder haben Sie das Bedürfnis, sich bei mir über Moral auszusprechen? Ich könnte dann antworten, daß ein Gespräch vor dem Spiegel nützlicher wäre.«

Dr. Urban grinste breit. Sie hat's verstanden, dachte er. Was einem Chefarzt recht ist, sollte man bei einem Oberarzt nicht für verwerflich halten.

«Es ist etwas anderes«, sagte Lisa Mainetti. Sie schluckte die Frechheit Urbans, ohne mit der von ihm erwarteten Schärfe zu reagieren. Das wunderte ihn, und er zog die Augenbrauen hoch.

«Sie machen es spannend, Kollega.«

Lisa legte die beiden verschlossenen Pakete auf den Tisch. Sie waren in neutralem Papier verpackt. Sie selbst hatte es getan und die Pakete versiegelt, ehe sie sie in den Apothekerschrank gelegt hatte.

«Wissen Sie, was das ist?«fragte sie.

«Nein! Woher? Es sieht aus wie Konfektschachteln.«

«Es sind 20 Ampullen Morphin.«

Dr. Urban sah Lisa entgeistert an, dann glitt sein Blick zurück zu den beiden Päckchen.

«Was soll das?«fragte er. Seine Stimme hatte plötzlich einen heiseren Klang. Er stieß die Worte mühsam heraus, als sei er drei steile Treppen hinauf gelaufen.

«Wir haben einmal getauscht: Ihr Schweigen gegen Morphium. Ich biete Ihnen einen neuen Tausch an.«

«Sieh an!«Urban trat rückwärts an sein Bett und setzte sich.»Ist

eine neue Schweinerei im Gange?«

«Ich biete Ihnen zehn Ampullen MO für die Herausgabe aller Durchschläge Ihrer Tauglichkeitsliste der Verwundeten«, sagte Lisa unbeirrt,»und weitere zehn Ampullen MO, wenn Sie ab heute abend bis übermorgen früh Urlaub nehmen und wegfahren. Nach Würzburg, nach Bamberg. es ist gleich, wohin. Nur weg aus Bernegg!«

Dr. Urbans Gesicht war eine einzige, große Genugtuung. Er schlug die Beine übereinander und trommelte mit den Fingern auf seinem Knie.

«Der liebe Unruh kommt, nicht wahr? Lag ja in der Luft. Alles frei machen zum siegreichen Endkampf! Und nun wollen Sie und der Chef ein bißchen Blindekuh spielen, was? Für zehn Ampullen MO! Haltet ihr mich für verrückt?«

«Ich weiß, daß Sie nur noch einen Vorrat für zwei Tage haben, Urban.«

«Genau! Aber dann ist die Kommission wieder weg, und ich bekomme ohne diesen Betrug an Führer und Reich meine Ampullen von Ihnen — bei unserem gegenseitigen Vertrauensverhältnis.«

Lisa Mainetti schwieg. Sie erkannte, daß Urban in diesem Augenblick die Trümpfe in der Hand hielt. Solange er sein Morphium besaß und Vorrat hatte, war es unmöglich, ihn zu zwingen.

«Es ist schade«, sagte sie nach einer kurzen Spanne des Nachdenkens.»Sie haben mich überzeugt. «Sie steckte die Päckchen wieder in ihre Tasche und wandte sich ab. Langsam ging sie zum Fenster, vorbei an Urban, der noch immer fröhlich auf sein Knie trommelte.

Vor dem Fenster blieb sie stehen und sah hinaus auf die Straße. Vom Zimmer Urbans konnte man über die Mauer hinwegblicken zur Hauptwache und zur Einfahrt in den Block B.

«Was ist denn das?«sagte Lisa plötzlich und drehte sich herum.»Verlieren Sie jetzt auch noch das letzte Schamgefühl, Dr. Urban? Da unten steht Irene Adam auf der Straße und versucht, Zeichen zu diesem Fenster hinauf zu machen.«

«Unmöglich!«Dr. Urban sprang auf.»Das ist völlig unmöglich.«

Er rannte ans Fenster und riß die Gardine zur Seite. Die Straße unten war leer. Nur ein Posten pendelte durch den Schnee vor der Einfahrt hin und her.

«Wo ist sie denn?«fragte er, öffnete das Fenster und beugte sich hinaus.»Ich sehe nichts.«

Lisa Mainetti hatte die wenigen Sekunden genutzt. Während sich Dr. Urban aus dem Fenster beugte, war sie rasch an seinen Nachttisch getreten und hatte die Schublade aufgezogen. Hilf Gott, daß er es hier verwahrt, dachte Lisa. Es ist meine letzte Chance, 70 Menschen zu retten.

Unter einem Buch und einigen Taschentüchern fand sie mit schnellem Griff, was sie suchte. Einen kleinen, länglichen, verchromten Kasten. Ein Spritzenetui mit einer Spritze, drei Nadeln und drei Ampullen MO. Sie riß den Kasten aus der Schublade und stieß sie mit dem Knie wieder zu, in dem Augenblick, als sich Urban umdrehte.