Sein Blick wurde starr, als er erkannte, was geschehen war. Er streckte die Hände vor, spreizte die Finger und drückte das Kinn gegen den Hals.
Lisa wich zur Tür zurück. Sie legte die Hand auf die Klinke und drückte sie hinunter. Aber sie öffnete die Tür noch nicht.
«Wenn Sie mich anfassen, schreie ich«, sagte sie laut.»Und ich kann schreien, das wissen Sie!«
«Sie verdammtes, raffiniertes Aas«, sagte Dr. Urban heiser.»Es war ein nie wiedergutzumachender Fehler, Sie nicht ins KZ zu bringen!«
«Geben Sie mir die Liste, und Sie bekommen zehn Ampullen und Ihre Spritze zurück!«
«Und wenn ich mich weigere?«
«Dann werden Sie spätestens heute abend halb wahnsinnig herumlaufen. Sehen Sie sich doch in Ihrem Spiegel an. Sie halten es ohne MO nicht aus bis heute abend.«
Dr. Urban schloß mit zitternden Händen das Fenster. Ohne ein weiteres Wort ging er zu seinem Schrank, holte zwei Schnellhefter heraus und warf sie auf den zwischen ihm und Lisa stehenden Tisch.
«Sind das alle Durchschläge?«fragte sie.
«Ja. Halten Sie mich für einen Lumpen?«
«Genau das!«Sie trat an den Schrank heran, und Urban hinderte sie nicht, als sie die Wäsche durchwühlte. Unter seinen Hemden fand sie einen dritten Schnellhefter und warf ihn auf den Tisch zu den beiden anderen.
«Also doch ein Lump!«sagte sie dabei. Sie legte eines der versiegelten Päckchen auf den Nachttisch sowie den abgegriffenen, verchromten Kasten mit der Spritze.»Die anderen zehn Ampullen bekommen Sie, wenn Sie morgen früh das Haus verlassen!«
«Und wenn ich wiederkomme? Wenn ich den Mund nicht halte und alles der Kommission erzähle?«schrie Dr. Urban.
Lisa Mainetti nahm die drei Schnellhefter vom Tisch und klemmte sie sich unter den Arm. Dabei schüttelte sie den Kopf.
«Mut haben die Hungrigen«, sagte sie.»Sie aber sind satt wie ein Mastferkel, wenn Sie Ihr Morphium gespritzt haben!«
In den nächsten Stunden sah es auf Schloß Bernegg aus, als wolle man das Lazarett verlegen.
In den Verbandszimmern marschierten die Kranken aus dem Block A auf, begleitet vom Chef der Inneren Abteilung und einem älteren Stabsarzt. Professor Rusch hatte alles in die Wege geleitet, ein Assistenzarzt und der Famulus Baumann, assistiert von drei Ordensschwestern, saßen neben Bergen von Verbandsmaterial bereit. In Gruppen zu fünfen wurden die Kranken hereingeführt und an die Tische verteilt.
«So, nun kriegste einen Turban!«sagte Baumann zu dem ersten, der eintrat.»Was haste denn?«
«'n Magengeschwür, Kumpel.«
«Ab heute haste keine Nase und keine linke Wange mehr, verstanden?«
«Seh ick so doof aus? Wenn ick vorm Heldenklau weglaufen soll, könnt ihr mir auch die Arschbacken wegrasieren.«
«Nee, danke — dein Gesicht reicht mir!«sagte Baumann. Er begann, dicke Mullagen auf das gesunde Gesicht zu legen und sie mit breiten Leukoplaststreifen zu verkleben. Dann wickelte er einen Verband um die Stirn und ließ nur die Augen frei.»Stell dir vor, was du für Glück hast«, sagte Baumann dabei.»Wenn ich nun gesagt hätte Kieferbruch, stell dir das vor!«
«Wieso?«fragte der Verbundene.
«Dann bekämste nichts zu fressen, sondern zweimal täglich ein dickes Nährklistier.«
«Sogar det mach' ick für den Heldenklau!«
In einer Ecke des OPs standen Professor Rusch und der Chef der Inneren Abteilung zusammen. Lisa Mainetti war hereingekommen und hatte Rusch stumm die drei Schnellhefter gegeben. Sie sah, wie sein Blick sie fragte, und sie nickte zustimmend. Es war, als atme Rusch erleichtert auf.
«Sie haben die Kollegen von der Inneren eingeweiht?«fragte er den Chef von Block A. Der Oberstabsarzt, ein dicker, schwerer Mann, nickte mehrmals.
«Ich kann mich auf meine Herren verlassen, Herr Kollege. Ich habe Ihnen die Männer 'rübergeschickt, deren Entlassung besonders naheliegend ist. Ich habe nur ein Bedenken: Fällt es nicht auf, wenn Sie so viel >schwere Fälle< haben? Lauter Dreivierteltote? Ob man Ihnen das abnimmt?«
«Man wird es tun. Ich werde ihnen nur einen einzigen Fall zeigen, ein einziges völlig zerstörtes Gesicht, und man wird darauf verzichten, daß wir die Verbände der anderen abnehmen!«
«Und warum pflastern Sie nicht Ihre eigenen Leute so zu wie meine Gesunden?«
«Jeder von ihnen ist noch vor kurzem operiert worden. Wenn ich ihnen jetzt unnütze Verbände und Leukoplaststreifen anlege, die ich später abreißen muß, kann ich die frisch eingewachsenen Gewebe zerstören, neue Blutungen können entstehen, Heilvorgänge werden unterbrochen.«
«Aber das ist doch auch der Fall, wenn man sie wieder im Truppendienst verwendet!«
«Darum verstecke ich sie ja, Kollege.«
Unterdessen wurden in den Bunkern die Betten bezogen und die Räume kräftig durchgelüftet. Noch während in den OPs die Verbände angelegt wurden, ließ Dr. Lisa Mainetti die von Dr. Urban in die Liste aufgenommenen Anwärter des Heldentodes in den großen Gemeinschaftssaal kommen. Sie hatte die Verwundeten in zwei Gruppen aufgeteilt. Der größte Teil zog in die Bunker um; ein kleines Häuflein, mit bereits wieder menschlich aussehenden Gesichtern wartete abseits. Noch wußten sie nicht, was mit ihnen geschehen sollte. Man rätselte daran herum, und der Wastl Feininger, der unter ihnen war, verkündete:»Dös war a Gaudi, wenn's uns auf die Schwesternzimmer verteilen täten.«
Es stellte sich heraus, daß die kleine Gruppe einen Urlaubsschein bekam. Der Schreibstubenunteroffizier kam mit einem Stapel unterschriebener Formulare und begann, sie mit den Namen auszufüllen.
«Nachturlaub bis morgen 24 Uhr!«sagte der Berliner.»Meine Fresse — wat mach' ick bloß damit? So schnell kriegste doch keene Puppe!«
Die Hände von Walter Hertz zitterten, als er den Urlaubsschein in Empfang nahm. Er fiel ihm aus den Fingern und flatterte unter den Tisch.
«Wat is denn?«schnauzte der Schreibstubenunteroffizier.»Wülste nich?«
«Aber ja! Ja!«Walter Hertz bückte sich, kroch unter den Tisch und holte den Urlaubsschein zurück.»Das ist wie ein Geschenk, Herr Unteroffizier. Heute wollen wir doch ins Kino, Petra und ich, und nun.«
«Nun haste 'ne ganze Nacht dazu! Junge, dreh mir bloß keenen Film ab!«Der Unteroffizier lachte.»Ick mach' nachher sowieso 'ne Kontrolle, ob det Marschgepäck stimmt!«
Sie alle bekamen ihren Nachturlaubsschein bis zum nächsten Tag 24 Uhr, der Wastl und der Kaspar Bloch, der Berliner und auch Fritz Adam, dessen Frau noch immer heimlich in der Nähe von Bernegg wohnte.
«Als erstes kipp' ick 'ne Molle!«sagte der Berliner, als er mit den anderen draußen im Gang stand.»Und der Baumann muß mir meine Fresse so verkleben, det ick ausseh' wie'n Student, der von der Mensur kommt. Und dann fahr' ick nach Würzburg. Leute. Da fällste weniger uff, und Auswahl haste och mehr! Taktik, Freunde! Wer fährt mit?«
Es waren neun Mann, die sich dem Berliner anschlossen. Der Wastl Feininger war unter ihnen. Mit seinem mächtigen Rollappen allein auszugehen, schien ihm ein sinnloses Unternehmen. Auch wenn man ihn wie in einen Turban einwickelte. Zu neunen war es jedenfalls sicherer, daß man was erlebte.
Still ging Fritz Adam zurück auf sein Zimmer. Der Schock des Weihnachtstages saß noch in ihm. Er hatte, als Schwester Dora Graff zu ihm ins Zimmer kam, alles vernichtet, was ihn an seine Frau erinnerte. Ihre Briefe lagen zerfetzt auf dem Boden, die Bilder waren zerrissen. Ein großes Bild hielt er noch in der Hand, die Fotografie von Irenes blondem Puppenkopf, und es war, als erwürge er sie mit seinen zitternden Fingern, als er das Bild weinend zerknüllte.
Dora Graff war auch jetzt im Zimmer, als Fritz Adam mit dem Urlaubsschein zurückkam. Sie putzte die Nachtschränke und ordnete Vasen und verstreut herumliegende Zeitungen.