Nachher ging er doch mit.
Auf einem Hügel etwas außerhalb Berneggs lag das Haus. Eine stattliche Villa im Jugendstil mit einem klassizistischen Säuleneingang. Sie sah merkwürdig aus, aber sie repräsentierte jenen Reichtum, bei dem Geschmacklosigkeit zum neuen Stil wird.
«Da ist es!«sagte Petra und zeigte den Hügel hinauf.»Großvater hat es gebaut, und jede Generation hat etwas dazugebaut. Ich würde es abreißen lassen.«
Sie liefen den gewundenen Weg hinauf, stolperten durch den Schnee und kamen atemlos vor dem Säuleneingang an. Die verglaste, schmiedeeiserne Flügeltür war offen, als habe man sie kommen sehen. Von irgendwoher aus dem Innern der Villa, gedämpft durch einige Türen, erklang Klavierspiel.
«Das ist Mama«, sagte Petra und zog Walter Hertz in die große Halle.»Jeden Abend spielt sie eine halbe Stunde Chopin oder Liszt, und Papa muß zuhören.«
«Ich kann auch Klavier spielen«, sagte Walter Hertz, und dabei überfiel ihn wieder die schmerzende Angst, nicht mehr zu den Menschen zu gehören.
Kapitel 8
Petra Wolfach schloß die Außentür und rief in die weite Diele:»Hallo!«Das Klavierspiel wurde nicht unterbrochen, aber im Hintergrund, unter einer breiten Treppe in den oberen Stock, öffnete sich eine Tür, und ein Hausmädchen erschien.
«Ihr Herr Vater wartet schon«, sagte das Mädchen und kam näher, um die Mäntel abzunehmen. Da sah sie Walter Hertz. Sie riß die Augen weit auf, ein Zucken lief über ihr Gesicht, der Körper spannte sich in dem Willen, wegzulaufen, fort von diesem Anblick, der Entsetzen verbreitete.
«Was ist denn?«fragte Petra laut.»Nehmen Sie doch Herrn Hertz den Mantel ab!«
Das Mädchen tat es, mechanisch, mit spitzen Fingern, als sei es ein ekliger Gegenstand, den sie forttrug. Walter Hertz sah ihr nach, er stand da mit hängenden Armen und zuckendem Kehlkopf.
«Ich… ich gehe doch besser«, sagte er leise, als Petra vom Spiegel zurückkam, wo sie sich rasch das Haar gekämmt hatte.»Wir haben uns zuviel für einen Tag vorgenommen. Es dauert nur eine Sekunde, und das Gesicht ist weg. Aber es dauert Jahre, bis die anderen, die Gesunden, uns wieder ansehen können. Ich habe es dir gesagt, Petra. Es ist zu früh mit mir. Bitte, laß mich wieder gehen!«
«Du bleibst! Erna ist eine dumme Pute. Papa und Mama sind ganz anders. Du wirst es sehen.«
Sie gingen durch die Halle, durch ein Speisezimmer und einen Salon und sahen durch eine breite Glastür den großen Wohnraum mit den Fenstertüren zum Park. In einem offenen Kamin aus rotem Marmor brannten dicke Buchenscheite, zwei Stehlampen verbreiteten einen gedämpften Schein über die mit Gobelinstoff bezogenen, schweren Sessel und den weißen Flügel. Eine hochgewachsene, schlanke, schwarzhaarige Frau saß davor und spielte Chopin. Zarte, schmale Finger glitten über die Tasten.
«Mama war früher Pianistin, bevor sie Papa heiratete. Wir haben oft Hauskonzerte gegeben. «Petra legte die Hand auf die Klinke der Glastür. Walter Hertz stand im Dunkel des Salons, an einen alten, geschnitzten Schrank gedrückt.
«Bitte, laß mich gehen«, flehte er.
«Schämst du dich, daß du dein Gesicht geopfert hast?«
«Nein, aber die anderen schämen sich, daß so etwas herumläuft!«
Petra Wolfach drückte die Klinke herunter. Sie stieß die Tür auf und rief in einen perlenden Tonlauf hinein:
«Da sind wir! Und das ist Walter Hertz!«
Sie zog Hertz in den Raum. Der Feuerschein aus dem offenen Kamin flackerte und zuckte über seinen Kopf, über das schiefe Gesicht und das abgerutschte linke Augenlid, als läge dieser Kopf in einem Scheiterhaufen und schrumpfe in den Flammen zusammen.
Frau Wolfach blickte von den Tasten auf, ihr Blick traf auf Walter Hertz, und das Nocturne von Chopin erstarb in einem grellen Mißklang.
Walter Hertz senkte wieder den Kopf. Man brauchte nichts mehr zu sagen. Der Aufschrei des Klaviers sagte mehr als tausend Worte. Er zerriß die letzte winzige Hoffnung.
«Guten Abend«, sagte er leise und rang mit sich, nicht loszuschreien.»Ich wollte nicht mitkommen. Bitte verzeihen Sie. Aber Petra ließ nicht locker. Darf ich mich gleich wieder verabschieden?«
Hubert Wolfach, Fabrikant und als Chef eines Zulieferungsbetriebs der Rüstung unabkömmlich, erhob sich aus dem tiefen Sessel am Kamin. Er warf seiner Frau einen schnellen, fast befehlenden Blick zu und kam mit sichtlicher Jovialität auf Walter Hertz zu.
«Sie sind Gast meiner Tochter und damit auch unser Gast, Herr Hertz«, sagte er und drückte dem Gesichtslosen die Hand.»Bitte verzeihen Sie, wenn… wenn der erste Eindruck. Aber das werden Sie gewöhnt sein! Es ist ein schreckliches Schicksal, wirklich. Aber unsere Ärzte sind so tüchtig, glauben Sie mir. Es wird sich wieder alles normalisieren.«
Auch Frau Wolfach war nähergekommen. Sie reichte Walter Hertz ihre lange, schmale Hand hin, eine kühle, glatte Hand, die kaum, daß er sie spürte, auch schon wieder aus seinen Fingern glitt wie ein Schlangenleib.
«Trinken Sie ein Glas Wein mit uns?«fragte sie.
Wie sehr sie sich beherrscht, dachte Walter Hertz. Aber ihre Kälte ist noch grausamer als das natürliche Entsetzen, mit dem man mich sonst betrachtet.
«Ich möchte wirklich nicht stören«, sagte Hertz und blieb stehen.
«Nun kriegen Sie keine Komplexe, junger Krieger!«rief Hubert Wol-fach. Er drückte Hertz in einen der Sessel und schob mit dem Fuß ein verkohltes Buchenscheit tiefer in die Flammen des Kamins.»Trinken wir einen Rotwein, ja? Rotwein ist blutbildend und stärkend. Das können Sie gebrauchen, was?«
«Walter wird heute nacht hier schlafen. Er hat einen Urlaubsschein bis morgen 24 Uhr«, sagte Petra. Frau Wolfach schwieg. Wie gefroren saß sie am Kamin, unbeweglich, weiß.
«Ich. ich möchte das wirklich nicht«, stotterte Hertz.
«Erna kann das erste Fremdenzimmer fertig machen!«Hubert Wol-fach goß den Rotwein in die Gläser, hob seins in den zuckenden Schein der Flammen und ergötzte sich an der rubinroten Farbe seines Weines.»Aus Frankreich«, sagte er.»Ein echter Mouton Rothschild. Zwei Kisten hat man mir mitgebracht. Verbindungen, wissen Sie. Na, dann Prost, Herr Hertz!«
Es wurde wenig gesprochen. Hertz erzählte stockend von seiner Verwundung, von jenem Sommertag, dem 30. Juni 1944, an dem plötzlich vor ihm eine Rauchfahne aufstieg, die Erde aufriß und der Himmel versank. Eine unsichtbare Faust hatte ihn gegen die linke Seite des Kopfs geschlagen, er war in die Knie gebrochen und hatte eben noch gesehen, wie die Fontäne aus Erde und Feuer zusammensank und der blaue Sommerhimmel wiederkam. Als er später aufwachte, in einem rumpelnden Pferdewagen, der südlich Minsk nach Westen flüchtete, hatte er mit seinem Gesicht seine Jugend, seine Zukunft, sein Menschsein verloren. Er fand dies alles erst wieder unter den Händen Dr. Lisa Mainettis.
«Schrecklich, schrecklich«, sagte Hubert Wolfach und goß neuen Wein zu.»Jaja, die Kriege. Ich habe den Ersten Weltkrieg ja auch mitgemacht. Die Marneschlacht, Ypern, Cambrai, zwei Gasangriffe. Auch wir hatten viele Verluste. Wo gehobelt wird, fallen eben Späne. «Er klopfte Hertz mit väterlich-nationaler Güte auf die Schulter.»Aber keine Sorge, junger Krieger, nicht den Kopf hängen lassen! Unsere Ärzte kriegen das wieder hin. Und später wird man immer sagen: Das hat er für das Vaterland getan.«
Walter Hertz schwieg. Ihm war speiübel zumute. Er sah Petra an, und über den gähnenden Abgrund, der zwischen ihren beiden Wel-ten lag, schien für diesen einen Augenblick lang kein Steg mehr zu führen.
Wenig später führte ihn Petra auf sein Zimmer. Sie gab ihm einen Kuß auf die verbundene Stirn.»Schlaf gut, Walter«, sagte sie.
«Gewiß. Du auch, Petra.«
Er wartete, bis sie aus dem Zimmer war. Er schloß die Tür ab und trat an den Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Lange sah er sich an, eine durch Binden und Leukoplaststreifen gemilderte Fratze.