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«Nein«, sagte er und lehnte den Kopf an den Spiegel.»Nein, du kannst nicht mehr geliebt werden.«

Er löschte das Licht, zog die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster und setzte sich in der Dunkelheit auf einen Stuhl. Unten lag Bernegg, dunkel, schemenhaft, Häuser wie Daumeneindrücke im Schnee. Auf den Höhen stand die dunkle Wand der Wälder. Weit weg, gegen Norden, jagten Blitze über den Nachthimmel. Flakfeuer, ein Luftangriff. Neue Tote, neue Trümmer, schreiende Menschen, neue Krüppel, neue Gesichtsverletzte.

Und später wird man immer sagen: Das hat er für das Vaterland getan, dachte Walter Hertz.

Ist das Vaterland das wert?

Ist es wie ein Vater zu uns?

Plötzlich dachte er daran, warum er hier in dem dunklen Zimmer einer feudalen Villa saß. Morgen früh würde eine Kommission durch das Lazarett gehen, die auch nur halbwegs Wiederhergestellten unter den Gesichtsverletzten würden herausgeholt werden. Zurück an die Front.

Das Vaterland!

Ein nimmersatter Moloch!

Der Dank!

Walter Hertz sah aus dem Fenster. Drei Meter unter ihm lag der tief verschneite Boden. Es würde nicht schwer sein, hinunterzuspringen und wegzugehen, irgendwohin, wo man nicht vom Vaterland sprach.

Im Wohnzimmer stellte Frau Wolfach die Gläser auf ein Tablett,

Hubert Wolfach schloß die Flasche Mouton Rothschild in einen Wandschrank und schob mit einem großen, schmiedeeisernen Haken die verglimmenden Buchenscheite weiter zurück. Trotzig, mit zusammengepreßten Lippen stand Petra am Kamin, die Hände zu Fäusten geballt.

«Wie stellst du dir das vor?«fragte Frau Wolfach.»Sicherlich, er mag ein netter Mann gewesen sein.«

Diese Feststellung in der Vergangenheit bedurfte keiner weiteren Erklärungen. Hubert Wolfach räusperte sich.

«Petra tut nur ihre Pflicht, meine Liebe. Verwundetenbetreuung ist etwas sehr Wichtiges. Sie hebt die Moral der Truppe. Man braucht da nicht gleich zu denken, daß.«

«Mutter erkennt es besser als du!«sagte Petra hart.»Ich habe Walter Hertz gern.«

Hubert Wolfach drehte sich abrupt um.»Was soll das heißen?«

«Was Mutter befürchtet: Ich liebe ihn.«

«Einen Menschen ohne Gesicht?«

«Ist er deshalb weniger wert als andere?«

«Aber es ist doch. Petra, wenn man ganz nüchtern denkt. «Hubert Wolfach sah hilfesuchend zu seiner Frau.»Du bist unser einziges Kind. und. und. Im übrigen ist es nur wieder eine von deinen Verrücktheiten!«

«Nein, Vater! Jetzt liebe ich ihn gerade! Alle lassen ihn allein. Er ist doch kein Aussätziger, er ist doch nicht schuld an seinem Aussehen, er hat doch sein Gesicht verloren, damit wir hier in unserer Villa leben dürfen, damit du weiter dein Geld am Krieg verdienen kannst, damit du deinen Mouton Rothschild trinken und Mutter ihren Chopin spielen kann. Für euch hat er sein Gesicht verloren. Und ihr jagt ihn jetzt weg wie einen räudigen Hund!«Sie schrie plötzlich, unbeherrscht, die Fäuste nach vorn werfend, als wolle sie nach ihren Eltern schlagen.»Er braucht uns, versteht ihr das denn nicht? Er braucht mich, um wieder zurückzufinden in das Leben, das ihm der Krieg gestohlen hat. Und ihr, ihr seid mitschuldig daran!«

«Petra!«Hubert Wolfach knöpfte seine Jacke zu.»Das sind ja geradezu kommunistische Reden! Ins Bett! Sofort! Wir sprechen noch darüber! Und auch mit diesem jungen Mann werde ich sprechen. Ganz nüchtern, von Mann zu Mann. Er wird genügend Verständnis aufbringen.«

«Das hat er für das Vaterland getan. Hast du das vorhin nicht selbst gesagt, Vater?«

«Gewiß…«

«Sind wir nicht sein Vaterland?«

Hubert Wolfach winkte ab und stellte die Regulierklappe des Kamins auf klein.

«Das sind so Redensarten, weißt du«, sagte er mit väterlicher Nachsicht.»Das tut so einem armen Menschen gut.«

Eine Stunde später stapfte Walter Hertz durch den Schnee den Hügel hinab. Er war aus dem Fenster gesprungen und über den Zaun des Parks geklettert. Nun keuchte er durch den knietiefen Schnee, vorbei an dem schlafenden Bernegg, den Wäldern entgegen, der großen, wunderbaren Einsamkeit.

Was er tun wollte, wußte er nicht, wo er die Nacht verbringen würde, daran hatte er nicht gedacht. Er spürte nur die Sehnsucht, hinauszulaufen in Dunkelheit, Schnee und Wald, wie ein Wolf, der die Nähe der Menschen flieht.

Der Besuch der Kommission war vorbei. Die Stationen waren durchgegangen, von den Bunkern hatte man nichts erwähnt, und Oberst Mayrat hatte auch nichts gefragt. Die beiden Stabsärzte, die Mayrat als Fachleute mitgebracht hatte, führten auf einer Liste die Namen von dreiundzwanzig Männern, die nach ihrer Ansicht fähig waren, im Ersatztruppendienst und im Nachschub eingesetzt zu werden.

Professor Rusch ließ die beiden Ärzte ohne Widerrede schreiben. Dr. Mainetti ließ es sich nicht entgehen, Oberst Mayrat den toten Leutnant Rudolf Fischer zu zeigen. Ehrlich erschüttert sah Mayrat auf diesen zerfetzten Kopf und wandte sich dann schnell ab.»Es be-ruhigt etwas, wenn man daran denkt, daß der Gegner auch solche Verluste hat!«sagte er dabei.

«Man sollte diese >Beruhigung< der wartenden Frau schreiben!«sagte Lisa giftig. Oberst Mayrat verließ stampfend das Zimmer. Seit dem Beginn der Auskämmung hatte sich die Stimmung sehr gewandelt. Die Gegnerschaft zwischen dem Lazarett und der Kommission v. Unruhs war deutlich geworden. Generalarzt Professor Gilgen versuchte mit weisen Worten zu vermitteln, doch er prallte gegen zwei Mauern, an denen seine Argumente zerschellten.

Im Gemeinschaftssaal hatten die Ordonnanzen eine Tafel aufgestellt und gedeckt. Es gab Gulasch mit Nudeln und dazu ein dünnes Bier, das aus der ehemals berühmten Schloßbrauerei stammte. Die gesamte Ärzteschaft des Lazaretts aus allen Blocks war anwesend, die Zahlmeister und der dicke Stabsintendant, der sich >Chef der Verwaltung< nannte. Drei Sanitäter unter Leitung des Famulus Baumann servierten.

«Meine Herren!«sagte Oberst Mayrat, und es war so etwas wie eine Tischrede, zu der er ansetzte.»Es freut mich, daß auch der heutige Tag in einem so guten, kameradschaftlichen Geist vergangen ist und daß wir unter Anlegungen weitestgehender Toleranz doch noch ein ganz schönes Grüppchen für die Entlastung unserer im Schicksalskampf um die Nation stehenden Front herausziehen konnten.«

Weiter kam er nicht. Professor Rusch klopfte mit der Gabel an sein Bierglas. In die Augen Lisa Mainettis kam ein besorgter Ausdruck. Sie trat Rusch unter dem Tisch auf den Fuß, aber er reagierte nicht darauf. Oberst Mayrat blickte verwundert und verärgert zu Rusch hinüber.

«Bitte?«fragte er mit maliziöser, hoher Stimme.

Rusch erhob sich. Sein zerfurchtes Gesicht war kantig. Lisa kannte diese Veränderung an ihm, es gab jetzt keine Kompromisse mehr.

«Ich möchte einen Irrtum klarstellen!«rief Professor Rusch mit lauter Stimme.»Herr Oberst Mayrat spricht von einem Grüppchen Verwundeter, die seine Kommission für wert erachtet, wieder dem Führer zu dienen!«Jeder spürte den dicken Spott aus seinen Worten. Professor Gilgen sah aufgeregt zu Dr. Mainetti hinüber. Hilflos hob sie leicht die Schultern.»Es stimmt. Es existiert seit einer Stunde eine solche Liste. Der Irrtum aber ist, daß wohl Namen aufgeschrieben worden sind — aber wer aus diesem Lazarett entlassen wird, bestimme ich!«

«Herr Oberstabsarzt!«rief Oberst Mayrat hochrot im Gesicht.

«Ich allein, Herr Oberst!«schrie Professor Rusch zurück.»Ich bin Arzt! Ich habe einen Eid auf die Menschlichkeit geschworen!«

«Einen Eid auf den Führer!«schrie Mayrat.

«Auch das!«Professor Rusch lächelte mokant.»Ich danke Ihnen, Herr Oberst, daß Sie zwischen Menschlichkeit und Führer einen so großen Unterschied herausstellen! Ich hatte das nicht bedacht!«

«Unerhört!«schrie Mayrat.

Professor Gilgen legte die Hand vor den Mund.»Er ist verrückt«, sagte er leise.»Er ist total verrückt.«