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«Als Chefarzt dieses Lazaretts beurteile ich allein, welcher Verwundete zur Entlassung vorgeschlagen wird! Ich trage hier allein die Verantwortung, und auch ein General v. Unruh kann sie mir nicht abnehmen!«

«Er tut es!«brüllte Oberst Mayrat außer sich.»Meine Kommission hat das Recht.«

«Sie hat das Recht auszusuchen. Sie entbindet mich vielleicht vor dem Gesetz von meiner Verantwortung — aber nicht vor Gott, Herr Oberst.«

«Lassen Sie den alten Mann aus dem Spiel! Es geht um Sein oder Nichtsein des Volks!«

«Was für ein Sein ist das, das von dreiundzwanzig Menschen ohne Gesicht abhängt!«

Oberst Mayrat schwieg, als habe man ihn mit einem mächtigen Schlag betäubt. Er sah sich um. Überall blickte ihm Kälte entgegen, Gegnerschaft, Verachtung, Haß. Generalarzt Professor Gilgen wandte den Blick zur Seite, als Mayrat ihn musterte.

«Ach, so ist das«, sagte Mayrat leise.»So also ist die Stimmung in der Heimat. Ein neuer Dolchstoß.«

Professor Rusch legte die Hände um sein Bierglas. Auch wenn sie alle in diesem Saal so dachten wie er — er wußte, daß er einsam dastand und für ein Recht kämpfte, das seinen Kopf wert war.

«Ich werde Herrn General v. Unruh einen genauen schriftlichen Bericht über die 23 ausgewählten Verwundeten einreichen«, sagte er kalt.»Ich werde Schlußuntersuchungen vornehmen müssen und Gutachten für spätere Ansprüche. Melden Sie bitte General v. Unruh, daß diese Meldung schätzungsweise vier Wochen dauern wird. Wir werden die deutsche Gründlichkeit nicht verletzen.«

Oberst Mayrat setzte sich. Er aß nichts mehr und ließ auch das Bier stehen. Mit verkniffener Miene verabschiedete er sich nach dem Essen von den Ärzten, und er küßte auch Lisa Mainetti nicht mehr die Hand. Professor Gilgen blieb noch einen Augenblick bei Rusch stehen, bevor er in seinen Horch stieg.

«Sie waren unvorsichtig, Rusch«, sagte er leise.»Ihre Äußerungen in die Ohren der Gestapo. Seien Sie klug, so kurz vor dem Ende hat es keinen Sinn mehr. Wir brauchen auch noch einige Köpfe für nachher. Wer soll denn aufbauen? Ich werde mit Mayrat reden, daß er den Mund hält.«

Er gab Rusch die Hand und hielt sie fest. Mit väterlichem Lächeln beugte er sich vor.»Sie können Ihre Jungs wieder aus dem Bunker holen, Rusch. Und die wie Paschas im Bett liegenden internen Kranken können auch zurück zum Block A.«

«Sie… Sie wissen alles, Herr Generalarzt?«Rusch lächelte schwach. Professor Gilgen drückte noch einmal seine Hand. Die weißen Haare unter der Mütze flatterten im Wind.

«Ich kenne doch meine ehemaligen Doktoranden. Und ich lasse sie auch nicht im Stich.«

Als die Wagen abfuhren, winkte ihnen Rusch mit beiden Armen nach. Er fühlte sich befreit und glücklich.

Er sah Professor Gilgen nicht wieder. Eine Fliegerbombe zerfetzte ihn wenige Tage vor Kriegsschluß bei einer anderen Besichtigung.

Im Lauf des Abends kamen sie alle wieder zurück. Der Berliner und

Wastl Feininger, zwei Tüten mit großen Laugenbrezeln in der Hand, Fritz Adam mit Dora Graff, der taube Kaspar Bloch. Und Walter Hertz.

Dr. Mainetti sah sie alle kommen. Wie von einem Geburtstag heimkehrende Kinder sind sie, dachte sie gerührt. Ihr Glück steht in ihren Augen. Vor allem Fritz Adam fiel ihr auf — er lachte wieder und hörte sich die ersten Berichte des Wastl Feininger an, die er schon auf der Treppe mit großer Lautstärke kundgab:»Dös war a Gaudi! G'soffen hab' i wia a Ochs! Und dös Weibsstück nimmt's Glas weg und sagt: >Sei stad, Wastl, sonst wirst mir nacha no impotent.««

Auch Walter Hertz meldete sich zurück und gab seinen Urlaubsschein auf der Schreibstube ab. Er sah etwas verwildert aus, an seinem Verband hingen Heufäden, und Strohhalme klebten an den Leukoplaststreifen. Der Schreibstubenunteroffizier zog die Augenbrauen hoch.

«Trägt das Schlafzimmer in der Fresse!«rief er.»Mensch! Such den Verband ab, ehe du zur Lisa gehst. Nicht, daß die noch 'n Büstenhalterhaken findet.«

«Idiot!«sagte Walter Hertz. Er warf den Urlaubsschein hin und verließ schnell die Schreibstube.

Auf seinem Zimmer legte er sich sofort ins Bett und schlief ein, kaum daß er die Augen geschlossen hatte.

Der Berliner kratzte sich den Kopf.»Junge, den hat's mitgenommen!«Er bürstete seinen Rock aus und hängte ihn in den Spind.»Bei dem miesen Fressen hier is man ja keen Simson mehr, sag' ick doch immer!«

Walter Hertz schlief. Eine Nacht in einer Waldscheune lag hinter ihm und ein sinnlos vertaner Tag. Er war durch die Hügelketten gerannt, durch tiefen Schnee, wie ein verirrter Fuchs, ziellos, im Kreise um Bernegg herum, allen Menschen ausweichend, frierend, einsam, verzweifelt und immer gegen den drängenden Gedanken ankämpfend: Mach Schluß! Hat es denn noch einen Sinn? Was kannst du denn noch erwarten? Es gibt doch keine Zukunft mehr für dich!

Er wußte nicht, daß schon am frühen Morgen Petra Wolfach an der Hauptwache des Lazaretts war und nach ihm fragte. Viermal war sie heraufgekommen und hatte ihn suchen lassen.»Der ist mit 'ner anderen Puppe los, Kleine!«sagte der Wachhabende in Unkenntnis der Zusammenhänge.»Such dir 'nen anderen aus! Wie wär's mit mir?«

Erst als es dunkel war, schlich Walter Hertz zum Lazarett zurück, zur gleichen Stunde, in der Petra hoch aufgerichtet vor ihren Eltern stand und sagte:»Ich werde Walter heiraten! Jetzt gerade!«

Erich Schwabe hatte keine Augen für seine zurückkommenden Kameraden. Mit der Post war ein Brief Ursulas gekommen. Ein langer Brief des Dankes für das Weihnachtsgeschenk und ein Schwur, auf ihn zu warten.

«Und wenn es zehn Jahre dauert«, schrieb Ursula in ihrer kindlichen Schrift,»ich bleibe Dir treu und warte auf Dich. Damit Du es nie vergißt, will ich es Dir immer wieder sagen: Ich bin Deine Frau und nichts wird uns trennen. Nur der Tod.«

Erich Schwabe las diese Sätze zum ungezählten Male. Er war mit diesem Brief sogar zu Lisa Mainetti gelaufen und hatte ihn ihr gezeigt.

«Uschi hat den Schock überwunden!«rief er glücklich.»Lesen Sie, Frau Doktor, was sie schreibt! Meine Mutter wird ihr alles erzählt haben, sonst würde sie die zehn Jahre nicht erwähnen. Ist das nicht wunderbar, daß ich eine solche Frau habe? Wann darf ich sie denn kommen lassen, Frau Doktor? Jetzt, jetzt will ich sie doch sehen!«

Dr. Mainetti überflog den Brief. Sie las ihn nicht Wort für Wort. Sie kannte diese Briefe. Es waren Worte, die man aus der Entfernung sprach. Die tägliche Nähe eines Menschen ohne Gesicht ist weniger pathetisch. Da wird man still, beißt die Zähne zusammen und streckt den Kopf vor wie einen Rammbock, um gegen Mitleid, Dummheit und Gleichgültigkeit anzurennen.

«Wir werden Ihre Frau so bald wie möglich rufen«, sagte Lisa Mainetti und gab den Brief zurück.»Aber erst wollen wir Ihre Nase machen. Das ist das wichtigste. Mit einer richtigen Nase sieht man immer gut aus.«

«Sie haben mir versprochen, gleich nach Neujahr damit anzufangen, Frau Doktor«, sagte Schwabe, fast flehend.

«Das werd' ich auch, Schwabe. Ihre Mutter hat mir ein Bild von Ihnen mitgebracht. Sie werden sehen, wie ähnlich wir Sie wieder hinbekommen.«

«Ähnlich?«sagte Schwabe leise und gedehnt.

«Wenn ich Gott wäre, Schwabe, würde ich Ihnen mit der Hand bloß über das Gesicht streichen und sagen: Sei Erich Schwabe. Und Sie sähen wieder aus wie früher. Aber ich bin nur ein Mensch wie Sie. Uns gibt Gott nur die Möglichkeit, Ähnlichkeit zu schaffen.«

Am Abend kehrte auch Dr. Urban ins Lazarett zurück. Er war mißgelaunt und schnauzte schon auf den Treppen die Verwundeten an, weil sie nicht zackig genug grüßten.

«Solange ihr noch einen Arm habt, gehört der zum Gruß nach oben!«brüllte er.»Zurück marsch marsch — noch mal 'rankommen und grüßen!«

Nach viermaligem Herumjagen wurde es ihm langweilig, und er verschwand in seinem Zimmer. Er zog sich um und visitierte dann seine Station. Die im Bunker Versteckten lagen wieder in ihren Betten und spritzten hoch, als Urban mit wehendem Mantel erschien.